Dienstag, 28. November 2017

Deutschland unter Erdoğan – Eine Kritik am personalisierenden Diskurs

Von Ismail Doğa Karatepe

Es scheint, als sei Erdoğan persönlich der Autor aller kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Türkei. Die Rhetorik kaschiert die politisch-wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei und öffnet den Raum für die deutsche Rechte.


In den letzten Jahren ist es in Deutschland sehr schwer geworden, eine Zeitung oder einen Nachrichtensender zu finden, in dem nicht das Konterfei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan abgebildet ist. Indes hat sich die Darstellung von Erdoğan über die Zeit stark verändert. Während er bis vor wenigen Jahren noch als Streiter für die Demokratie im gesamten Nahen Osten galt und jeder seiner Schritte gegen politische Gegner als Teil eines demokratischen Prozesses gelobt wurde, hat sein Konterfei jetzt neben den Bildern des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un einen Platz. Alles, was er unternimmt, ist nun verdächtig. Und die aggressivsten Fotos von ihm werden speziell für die Schlagzeilen ausgewählt.

Für linke wie für rechte Medien ist Erdoğan zum Inbegriff des Bösen geworden. Der Tenor: Eine Türkei ohne ihn könne eine bessere Türkei sein. Es scheint, als sei Erdoğan persönlich der Autor aller kulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Türkei. Aus dem Blickfeld gerät dabei, dass die Gesellschaft insgesamt immer mehr nach rechts rückt, dass die staatlichen Institutionen sich von Grund auf verändern, dass die patriarchal geprägten Institutionen Frauen das Leben immer schwerer machen. Die Produktionsverhältnisse in der Türkei und weitere strukturelle und institutionelle Elemente geraten in den Hintergrund.

Erdoğan und sein Team sind heute zweifellos die wichtigsten Akteure auf der politischen Landkarte und in der symbolischen Ordnung der Türkei. Der herrschaftliche Palast in Ankara, in dem er residiert, steht mittlerweile an der Spitze der Hierarchie der staatlichen Institutionen. Doch ist die quasi-göttliche Allmacht, die der deutsche Diskurs Erdoğan zuschreibt, theoretisch unzureichend erfasst. Sie findet auch in der tatsächlichen Politik keine Entsprechung. Nur ist das kein naiver theoretischer Fehler. Im Gegenteil wäre es naiv, das zu glauben. Vielmehr dient der Diskurs zu Erdoğan selbst als Ideologie. Im Folgenden geht es um die Grundlagen dieser Ideologie.

Das deutsch-türkische Wirtschaftsgeflecht

Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Türkei und Deutschland haben in den letzten 70 Jahren ein Muster entwickelt, das beinahe ein Beispiel für internationale Ökonomielehrbücher sein könnte. Während Deutschland Kapital und kapitalintensive Produkte in die Türkei exportiert, exportiert die Türkei Arbeitskräfte und arbeitsintensive Produkte nach Deutschland. Dieses Muster wurde in der AKP-Periode nicht unterbrochen. Nur an einem Punkt hat es sich verändert: Seit die islamistische Partei im November 2002 die türkischen Parlamentswahlen gewann, kooperieren deutsche Unternehmen zunehmend auch mit der Geschäftswelt, die der AKP nahesteht.

Eine solche Veränderung ist nicht überraschend. Die AKP nimmt großen Einfluss auf die Geschäftswelt, mit der sie auch personell verflochten ist. Die Partei wird – trotz oder wegen ihrer islamistischen Kader – von einer großen Mehrheit der Unternehmer unterstützt. Dies wirkt sich auch auf internationale Kooperationen aus, wie es sich anhand der jüngeren Partnerschaft zwischen Kalyon Construction und Siemens veranschaulichen lässt.

Die Aufstiegsgeschichte von Kalyon, die Mitte der 1990er Jahre begann, wurde vorläufig dadurch gekrönt, dass ein gemeinsam mit Siemens gegründetes Konsortium die Ausschreibung für einen Windenergievertrag gewann. Der Zuschlag wurde im August 2017 vergeben und sieht Investitionen von rund 1 Mrd. US-Dollar vor. Mit dieser Investition kann, so wird berichtet, der Strombedarf von mehr als einer Million Haushalte gedeckt werden. Die Details werden zwar nicht bekannt gegeben, aber wir können mit Blick auf das Investitionsvolumen und das notwendige Know-how davon ausgehen, dass Siemens der gewichtigere Partner ist. Mit mehr als 98 Mrd. Dollar Umsatz, über 350.000 Beschäftigten und dem technologischen Know-how wird Siemens die Hauptsäule dieses Konsortiums bilden.

Zum Hintergrund von Kalyon: Die Wohlfahrtspartei (RP), in deren Erbe die AKP steht, gewinnt 1994 die Kommunalwahlen in den Metropolen Ankara und Istanbul. Erdoğan wird zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt. In der Folge wird das kommunale Wirtschaftsunternehmen KİPTAŞ umstrukturiert und neu in Betrieb genommen. KİPTAŞ geht auf das Unternehmen İMAR WEIDLEPLAN zurück, das 1987 zusammen mit einer Firma mit Sitz in Deutschland gegründet worden war. Bis zum Sieg der RP im Jahr 1994 blieb es allerdings untätig.

Die erste Aufgabe der Firma, nun von den Islamisten in Betrieb genommen, war die Ausschreibung eines 50.000-Wohnungen-Projektes, bekannt geworden als Başak-Hilal-Projekt. Der damalige Kleinunternehmer Kalyon gewinnt den Zuschlag für dieses Projekt, sein steiler Aufstieg nimmt hier seinen Lauf. Seither sind meist umstrittene Großprojekte in Istanbul (Bakırköy Justizpalast, Metrobus Linienbau, Taksim Pedestrianization Project, der dritte Flughafen) allesamt von Kalyon unterzeichnet worden. Natürlich zeigte man sich erkenntlich: Kalyon unterstützte die AKP und Erdoğan nicht nur durch Spenden und Gründung von islamistischen Stiftungen, sondern auch durch den Kauf von Medienunternehmen.

Nun kooperiert Kalyon also auch mit einer der größten deutschen Kapitalgruppen. Doch der Mainstream-Diskurs in Deutschland, der ständig bloß Erdoğan ins Visier nimmt, macht sich kaum Gedanken über die enge Kooperation zwischen dem deutschen Kapital und türkischen Kapitalgruppen, die die AKP massiv unterstützen. Obwohl diese Kooperation, die dem deutschen Kapital Spielräume und Zugänge zu profitablen Geschäften ermöglicht, weiterbesteht, wird so getan, als agiere Erdoğan hiervon völlig unabhängig. Im Ergebnis verdeckt ein solcher Diskurs die tatkräftige Mitwirkung deutscher Akteure an der Stabilisierung derjenigen Beziehungen, auf denen Erdoğans politische Macht gegründet ist.

Erdoğan-Diskurs und die neue Rechte in Deutschland

Erdoğan derart in den Mittelpunkt zu stellen, ignoriert nicht nur die rechte Dynamik in der Türkei, es spielt auch rechten Kräften in Deutschland in die Hände. Der gesellschaftliche Ruck nach rechts in der Türkei und der autoritäre Regierungsstil werden mit orientalistischen Begriffen belegt. In Abgrenzung zum „Osten“ wird der „Westen“ konstruiert. In dieser angstbesetzten Fiktion muss das Abendland vor dem Sultan Erdoğan und seinen Heerscharen, vor „den“ Türken geschützt werden.

Betrachtet man beispielsweise die Berichterstattung über die Türkei in der Zeitschrift Compact, die sich in politischer Nähe zur AfD befindet, offenbart sich das fatale Ausmaß des personalisierenden Erdoğan-Diskurses. Eine der Ausgaben der Zeitschrift zu Erdoğan und zur Türkei trägt den Titel „Kalifat BRD - Feindliche Übernahme durch Erdoğan & Co.“ Eine andere titelt: „Erdoğan-Umsturz in Deutschland?“

Es genügt, weitere Titel aufzulisten, um eine Vorstellung von der rassistischen Dimension zu bekommen, mit der der Erdoğan-Diskurs in Deutschland verknüpft ist: „Türkenaufstand in Deutschland? Erdoğans Bürgerkriegs-Truppen”; „Döner, Mord und Propaganda: Die Destabilisierung Deutschlands”; „Osmanische Armee-Fraktion – Deutschland unterm Halbmond”; „Kriminelle Türken wollen Deutschland übernehmen”; „Kalifat BRD – 63% wählten Erdoğans Diktatur“, womit die Ja-Stimmen für die AKP und Erdoğan beim Verfassungsreferendum im April 2017 gemeint sind.

Dabei haben die meisten Akteure des Erdoğan-Diskurses keine grundsätzlichen Einwände gegen Diktatur, Autoritarismus oder eine rechte/religiöse Gesellschaft. Eines der offensichtlichsten Anzeichen dafür ist die Haltung wichtiger politischer und militärischer Kräfte in Deutschland zum Putschversuch am 15. Juli 2016. Die Autoren des Putsches wurden in Schutz genommen. Alle Erklärungen waren darauf gerichtet, die Urheberschaft zu verbergen. Dabei waren der Putschversuch selbst sowie die Ereignisse davor und danach offensichtlich Ausdruck eines Machtkampfes zweier mittlerweile verfeindeter islamistischer Gruppen (Gülen-Bewegung versus Erdoğan-Team).

Viele der Akteure, die den Erdoğan-Diskurs reproduzieren, unterscheiden sich in ihren Vorstellungen über die Stärke und Entwicklung Deutschlands nicht wirklich von Erdoğans Fantasien zur Türkei. Die weit verbreitete Verwendung rechter und religiöser Symbole, die Anbetung von Wirtschaftswachstum, die Ausweitung patriarchaler Institutionen, eine Umverteilungspolitik zugunsten des Kapitals sind programmatische Gemeinsamkeiten beider Seiten.

Aber der vielleicht tragischste Aspekt ist, dass sich auch außerhalb rechter Kreise in Deutschland orientalistische Figuren breit machen. Der Sultan, der Kalif oder der Despot sind zu beliebten Bildern im politischen Sprachgebrauch geworden. Wie stark diese Bilder den Orientalismus und den latenten Rassismus, den er transportiert, prägen, ist vergessen. Der personalisierende Diskurs eliminiert Elemente von befreiender Herrschaftskritik und lässt die Grenzen zwischen den politischen Lagern verschwimmen.

Schluss

Als die Redaktion des „Infobrief Türkei“ erstmals zusammenkam und 2012 mit der Produktion von Artikeln begann, entwickelte sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungsmustern zur Türkei in Deutschland. Damals ging es um die vermeintliche Demokratisierung des Landes, das angebliche Ende des kemalistischen Bevormundungsregimes und die hochgelobte Annäherung der Türkei an die Europäische Union. Wir entwickelten demgegenüber eine analytische Betrachtungsweise, die zutreffende Prognosen liefern konnte.

Sicherlich ist Erdoğan ein bedeutender politischer Akteur mit einem nicht zu unterschätzenden Anteil an der Transformation, die die Türkei in den letzten 15 Jahren durchlaufen hat. Der fatale Fehler ist aber, die fundamentalen Veränderungen allein ihm zuzuschreiben. Eine solche Rhetorik liefert theoretisch und empirisch inkonsistente Ergebnisse, kaschiert die langjährigen und intensiven politisch-wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei und öffnet einen gefährlichen Raum für die deutsche Rechte.

Die Kritik an Erdoğan muss die institutionellen und strukturellen Aspekte seiner Macht genau analysieren. Das ist keine rein akademische Anstrengung. Sie wird auch politisch zu einem gründlicheren Verständnis der Entwicklungen in der Türkei und speziell der AKP beitragen. Nicht zuletzt liefert eine derart fundierte Kritik die Instrumente für die Analyse des gesellschaftlichen Schubs nach rechts auch hierzulande.