Samstag, 14. Januar 2017

Atlantiker, Eurasier, Nationalisten – turbulente Koalitionen der AKP

Von Sinan Birdal

Bedeutet die Moskauer Abmachung, dass die Türkei sich von der NATO lösen und einem Bündnis mit Russland, China und dem Iran anschließen wird? Wie stabil ist die Kriegskoalition der AKP angesichts der Fraktionierung in den Sicherheitsapparaten? Und welche Folgen hätte eine mögliche Annäherung zwischen den USA und Russland für die AKP?


Im März 2002 hielt der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Armeegeneral Tuncer Kılınç, einen Vortrag auf dem von der Militärakademie in Istanbul ausgerichteten Symposium Wie kann ein Friedensgürtel um die Türkei gebildet werden? Die Türkei, so seine These, erhalte keinerlei Hilfestellung von der EU und müsse sich deshalb Russland und dem Iran zuwenden. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Ein türkischer General, dafür bekannt, die längste Dienstzeit in der NATO-Kommandantur verbracht zu haben, schlug einen radikalen Kurswechsel in der Bündnispolitik des Landes vor.

Der damalige Ministerpräsident von der Demokratischen Linkspartei DSP, Bülent Ecevit, „Veteran des Zypern-Feldzugs von 1974“, sah sich genötigt, folgende Erklärung abzugeben:

„Der verehrte General mag eine private Meinung haben. Wie die USA und der Iran zusammengebracht werden sollen, erschließt sich mir aber nicht. Das hat er als persönliche Meinung geäußert. Momentan verlaufen die Beziehungen zur EU gut. Falls es in der Zukunft zu ernsthaften Problemen kommen sollte, dann kann man entsprechend vorsorgen. Aber momentan gibt es dazu keinen Anlass.“

Atlantische Islamisten gegen Eurasier

Zu diesem Zeitpunkt war die Ecevit-Regierung bereits angezählt. In seinem Buch Ankara’da Irak Savaşları (‚Irak-Kriege in Ankara‘) erzählt der Journalist Fikret Bila, wie durch die Unterstützung der USA und des Verbands des Großkapitals TÜSİAD für die neu gebildete AKP die ohnehin schwächelnde Ecevit-Regierung zu wackeln begann. Der Aufstieg der AKP geht mit der Entmachtung des anti-westlichen „Bannerträgers“ Necmettin Erbakan einher, der den politischen Islam über drei Jahrzehnte angeführt hatte [1]. Um dessen Schicksal – einem Sturz durch die Generäle – zu entkommen, holte sich die AKP die Rückendeckung des ‚Westens‘, dem sie sich andiente. Einige Jahre später, als die AKP etwas fester im Sattel saß, sollten der General Kılınç und seine Mitstreiter im Rahmen der Ergenekon-Prozesse unter dem Vorwurf eines Putschversuchs verhaftet werden.

Ein von Wikileaks 2011 veröffentlichter, im Jahr 2003 vom US-Botschafter in Ankara verfasster Report gewährt Einblicke, welche Einschätzung die USA zu dieser Zeit von der türkischen Armee hatten. In dem Report mit dem Titel The Turkish General Staff: A fractious and sullen political coalition (‚Der türkische Generalstab: Eine uneinige und mürrische politische Koalition‘) werden drei Fraktionen beschrieben: Die Atlantiker, die Nationalisten und die Eurasier.

Dem Report zufolge wird die eurasische Neigung durch die Ansicht genährt, die Türkei wie auch Russland würden vom Westen unterdrückt werden, ohne dass die Träger dieser Ansicht wirklich begriffen hätten, dass eine eurasische Orientierung die Akzeptanz einer Dominanz Russlands bedinge. Eine weitere Überzeugung der Eurasier sei, dass ein Bündnis mit Russland auch ohne eine Demokratisierung der Türkei auskomme [2]. Aktuell befänden sich die Eurasier in einer Koalition mit den Nationalisten [3]. Der Generalstabschef Hilmi Özkök sei Atlantiker, während Yaşar Büyükanıt, Aytaç Yalman, Çetin Doğan, Fevzi Türkeri, Şener Eruygur, Köksal Karabay und der eingangs genannte Tuncer Kılınç zu den opponierenden eurasischen/nationalistischen Generälen zählten.

Die Verhaftung der „opponierenden Generäle“ ab 2007 sollte von der AKP als Sieg des zivilen Willens und der Demokratie präsentiert werden. Nicht verhaftet wurde aber der in der Zwischenzeit zum Generalstabschef aufgestiegene Yaşar Büyükanıt, der 2006 den „Atlantiker“ Özkök abgelöst hatte. Das am 5. Mai 2007 zwischen Büyükanıt und dem damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan erfolgte Treffen, das für viel Wirbel sorgte und dessen Inhalt bis heute geheim geblieben ist, stellte sich als Wendepunkt dar. Obgleich Büyükanıt bekannt gegeben hatte, dass er persönlich das im Vorfeld der Präsidentenwahl 2007 auf der Website des Generalstabs veröffentlichte Schreiben (das sogenannte E(lektronische)-Memorandum) verfasst hatte, das weithin als Ultimatum an die AKP verstanden wurde, von ihrem Kandidaten Abdullah Gül abzusehen, blieb er von jeder Anschuldigung während der Ergenekon-Prozesse verschont. Ertuğrul Kürkçü, der später Parlamentsabgeordneter der HDP werden sollte, bewertete damals das Treffen zwischen Erdoğan und Büyükanıt als Auftakt für ein Bündnis zwischen Militär und Islamisten. Heute wissen wir auch, dass die verhafteten eurasischen/nationalistischen Offiziere durch nachrückende gülenistische Offiziere ersetzt wurden.

Eurasische Islamisten gegen Atlantiker

Die Orientierung am Westen bildete die geostrategische Grundlage des Bündnisses. Die Unterstützung des Westens ermöglichte der AKP, die Staatsapparate unter ihre Kontrolle zu bringen. Ungefähr zehn Jahr später hat sich diese Gleichung offensichtlich aufgelöst. Die Bedingung zur Kontrolle der Staatsapparate scheint heute in einer eurasischen Orientierung, in einem Bündnis der AKP mit den Eurasiern zu liegen [4]. In diesem Rahmen sollte die kürzlich getroffene Moskauer Abmachung zwischen Russland, dem Iran und der Türkei bezüglich der weiteren Entwicklung des Krieges in Syrien bewertet werden. Die treibende Dynamik hinter dem außenpolitischen Richtungswechsel, den die Türkei im Rahmen der Abmachung vornimmt, beruht auf der innenpolitischen Konstellation.

Die Abmachung kann wohl als bedeutendster Erfolg der Eurasier seit dem Ende des Kalten Kriegs bewertet werden. Doch welche Aussicht hat das eurasische Unterfangen? Bedeutet die Moskauer Abmachung, dass die Türkei sich von der NATO lösen und einem alternativen Bündnis mit Russland, China und dem Iran anschließen wird? Wie stabil ist ein Bündnis mit eurasischen Kadern, die vor nicht allzu langer Zeit von der AKP eingebuchtet worden waren? Wie sehr werden sich die beiden Lager vertrauen können?

Beginnen wir mit der letzten Frage: Wie die Beziehung zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung eindrücklich aufgezeigt hat, ist kein Bündnispartner vertrauenswürdig, kein Bündnis hält ewig, egal wie gesichert es ideologisch erscheint und wie stark die internationale Unterstützung ist. Die Bedeutung gefestigter Institutionen und von Regelwerken wie Verfassungen für das Funktionieren eines politischen Systems ist durch diese Unberechenbarkeit begründet. Indes scheinen die AKP-Kader, deren Wurzeln in den Klientelnetzwerken von Kommunalverwaltungen liegen, immer noch nicht begriffen zu haben, dass eine an wechselhafte Tagesinteressen geknüpfte Machtverteilung permanente Instabilität hervorruft. Vielleicht haben sie das aber auch zu gut begriffen. Es ist davon auszugehen, dass die Eurasier nach Mechanismen verlangen, die ihnen das Schicksal der Gülenisten erspart. So stellt der Verfassungsdeal, den die MHP mit der AKP eingegangen ist, einen bestimmten Teil der Eurasier nicht zufrieden. Der Perinçek-Flügel fordert zur Absicherung und zum Ausbau seines neu erworbenen Status in den Sicherheitsapparaten eine nationale Mobilmachung, die der Verhängung des Kriegsrechts entspricht [zur Person Doğu Perinçek siehe Verweis in Fußnote 3].

Die kurdische Frage als gemeinsamer Nenner

Dass die Eurasier sich untereinander nicht einig sind, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage sie stehen möchten, stärkt zunächst einmal die AKP. Hieraus folgt aber nicht, dass die AKP den Werdegang problemlos wird kontrollieren können. Die Rückkehr zu einer militärischen Lösung der kurdischen Frage bildet den gemeinsamen Nenner des Bündnisses. Allerdings zerbrach auch das Bündnis mit den Gülenisten exakt an diesem Punkt. Es waren nicht die Korruptionsermittlungen vom 17.-25. Dezember 2013, sondern die Vorladung des Geheimdienstchefs Hakan Fidan Anfang 2012 durch Staatsanwälte des Gülen-Netzwerks, die den Bruch auslöste [5].

Zuvor hatten die Gülenisten ihre Kritik am Oslo-Prozess – an den geheimen Verhandlungen zwischen der Regierung und der PKK, die von 2009 bis 2011 in Oslo geführt wurden – verschärft. Sie forderten zur Lösung der kurdischen Frage statt Verhandlungen einen radikalen Massenmord, den sie in Anlehnung an die Ermordung der Tamilen-Rebellen „Sri Lanka Modell“ nannten. Als die Regierung die Verhandlungen mit der PKK schließlich aufgab, versetzte sie massenhaft Gülenisten in den Südosten. Zur Bekämpfung der „Kurden“ wurde an vorderster Front die von Gülenisten durchsetzte Polizei eingesetzt. Die AKP vertraute dem Militär aufgrund der „Ergenekon Verschwörung“ zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Regel des Krieges verschaffte sich auf der Stelle Geltung: Wer im Krieg gegen die „Kurden“ das Zepter schwingt, erlangt eine von der Regierung in Ankara nicht mehr kontrollierbare Macht und kann auf dieser Grundlage noch mehr Macht und Befugnisse von Ankara verlangen.

Was in den 1990ern für die Susurluk-Bande und in jüngerer Zeit für die Gülenisten galt, die jeweils über die Dynamiken des Krieges Macht akkumuliert hatten, gilt wohl auch für jene, die jetzt das Zepter schwingen. Dass die AKP-Regierung die Kriegsfront unausgesetzt in Richtung Syrien und Irak erweitert, hat meines Erachtens weniger ideologische denn politische Gründe, die aus den inneren Balancen des Regimes herrühren. Die kriegsführenden eurasischen Kräfte drängen auf eine Ausweitung des Krieges und in diesem Zuge ihrer Befugnisse.

Regierungswechsel in den USA

Betrachten wir nun die Aussichten des eurasischen Unterfangens. In der amerikanischen Presse wird nicht zu Unrecht davon gesprochen, dass die Moskauer Abmachung die USA ausschließt. Hierin liegt sicherlich ein wichtiger, allerdings doch nur ein taktischer Sieg der Eurasier. Die USA bereiten sich nach dem wohl turbulentesten Wahlkampf in ihrer jüngeren Geschichte auf einen Regierungswechsel vor. Eine gewisse politische Schwerfälligkeit kann hierbei auftreten. Russland, Syrien, der Iran und die Türkei scheinen die Übergangsphase ausnutzen zu wollen.

Es scheint, dass Moskau sich aufgrund einer ausbleibenden Einigung mit den USA in der Causa Syrien mit der Türkei ein neues Gegenüber geschaffen hat. Das heißt, die Türkei sitzt derzeit nicht aufgrund eigener Stärke am Verhandlungstisch, sondern aufgrund eines Spielraums, den sie von Russland gewährt bekommt. Es ist aber nicht richtig klar, wen die Türkei an diesem Tisch wirklich repräsentieren kann. In den internationalen Beziehungen werden die Balancen über die tatsächlichen Kapazitäten eines Landes gebildet. Russlands Staatspräsident Vladimir Putin weiß sehr wohl, dass das strategische Gegenüber die USA sind.

Ende Januar wird Donald Trump die Regierung in den USA übernehmen. Bislang äußerte Trump Sympathien mit Russland. Den CEO von Exxon Mobile, Rex Tillerson, der Geschäfte mit Russland unterhält, hat er als zukünftigen Außenminister benannt. Es schließt die Frage an, wie sich diejenigen verhalten werden, die im Namen eines Anti-Amerikanismus sich als Freunde Russlands positioniert haben, wenn eine Russland-freundliche amerikanische Regierung das Ruder übernimmt? Das interessantere Thema, das die Beziehung der AKP zu den Eurasiern berührt, wird aber ein anderes sein: die Bekämpfung des Islamismus. Während seiner Wahlkampagne betonte Trump immerfort, dass seine Sympathie mit Putin hauptsächlich auf dessen Bombardierung „islamistischer Terroristen“ beruhe. Trump kritisierte Obama und Clinton, sie würden die Terroristen nicht als islamistisch bezeichnen.

Sofern sich dieses Stimmungsbild bewahrheitet und Trump sich mit Putin einigen sollte, was geschieht dann mit der Abmachung zwischen Moskau, Teheran und Ankara? Dass sich Trump eindeutig auf die Seite Israels und gegen die unter Obama geführte Diplomatie mit dem Iran stellte, ist kein Geheimnis. Der Iran liegt seit 1979 außerhalb des Einflussgebiets der USA, nicht jedoch die Türkei. Will sagen: Wenn Trump zur Bekämpfung des Islamismus eine Partnerschaft mit den türkischen Eurasiern eingehen sollte, welches Gegengewicht bleibt der AKP dann, um eine eurasische Fraktion auszutarieren, die sowohl die Unterstützung Putins als auch Trumps erhält und im Krieg gegen die „Kurden“ das Zepter schwingt?

_________________________________

[1] Anm. d. Red.: Die erste Koalitionsregierung mit Beteiligung des politischen Islam (Wohlfahrtspartei) wurde 1996 unter Erbakan gebildet. 1997 wurde die Regierung durch ein Ultimatum der Generäle wegen islamistischer Umtriebe zuerst gemaßregelt und schließlich zum Rücktritt gezwungen. Die Partei wurde verboten, was den Gründungsvätern der AKP die Gelegenheit bot, sich von Erbakan zu lösen.

[2] Anm. d. Red.: Die Generäle verbanden zu diesem Zeitpunkt mit Demokratisierung vor allen Dingen ihre eigene politische Entmachtung im Zuge des Heranführungsprozesses an die EU.

[3] Anm. d. Red.: Hinsichtlich der geopolitischen Positionierung, über die sich die Fraktionen bilden, vertreten die Nationalisten (auf Türkisch „Ulusalcılar“) eine Position nationaler Unabhängigkeit, bestehen auf einem unitären Staatswesen und einer ethnisch einheitlichen Definition des Staatsvolks. Sich in der Tradition Atatürks verortend, sehen sie ihre Aufgabe darin, die Einheit der Türkei zu erhalten, die sie durch imperialistische Ränkespiele gefährdet sehen. Siehe zur Beschreibung der Akteure auch den Artikel von Nick Brauns: Ein Russe in Ankara.

[4] Anm. d. Red.: Die verhafteten Offiziere und Zivilisten der „Ergenekon Verschwörung“ wurden bereits vor zwei Jahren nach langjähriger Haft nach und nach wieder entlassen. Das Urteil von 2013 wurde im April 2016 wieder aufgehoben. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden einige eurasische/nationalistische Offiziere wieder in die Armee aufgenommen.

[5] Anm. d. Red.: Im Zentrum des Konflikts standen die geheimen Verhandlungen der AKP mit der PKK zwischen 2009 und 2011 in Oslo. Das Führen von Verhandlungen mit der „Terrororganisation PKK“ wurde von gülenistischen Staatsanwälten zum Anlass genommen, Ermittlungen wegen Landesverrats aufzunehmen. Es galt als wahrscheinlich, dass der Geheimdienstchef Fidan, der im Auftrag der Regierung die Verhandlungen führte, dem Vorwurf des Landesverrats ausgesetzt worden wäre, wenn er der Vorladung der Staatsanwälte gefolgt wäre. Die AKP wertet das Begebnis als ersten Putschversuch der Gülenisten. Da der Geheimdienst dem Ministerpräsidenten unterstellt war, war naheliegend, dass die Ermittlungen sich im nächsten Schritt gegen Erdoğan richten würden. Erdoğan konnte verhindern, dass Fidan der Vorladung folgen musste.


___________________________________

Sinan Birdal ist Politikwissenschaftler und Kolumnist. Der Artikel basiert auf einer Veröffentlichung in Gazete Duvar am 22.12.2016.

Aus dem Türkischen übersetzt und redaktionell bearbeitet von Errol Babacan.