Sonntag, 17. Juli 2016

Der fingierte Putsch – Gottes Segen

Von Errol Babacan

Der Putschversuch hat die AKP mit einer Initiativhoheit ausgestattet, die sie voll ausschöpfen wird. Auf den Straßen wird die Inthronisation des islamisch-faschistischen Mobs eingeübt.


Als am Abend des 15. Juli die ersten Nachrichten über die Blockade der Bosporus-Brücke und tieffliegende Kampfjets über Ankaras Himmel die Runde machten, herrschte große Besorgnis und zugleich Überraschung auf Seiten der demokratischen und linken Kräfte des Landes. Die Sorge galt nicht der AKP-Regierung und der “demokratischen Grundordnung”, wie viele Staatsmänner und -frauen am nächsten Tag sich ausdrückten. Letzteres besteht in der Türkei schon lange nicht mehr. Vielmehr kann von der Armee, so die überwiegend geteilte Meinung, nichts Gutes kommen, auch dann nicht, wenn sie gegen die AKP vorgeht. Nicht nur die historische Erfahrung, sondern auch die blutige Niederschlagung des Aufstands in den kurdischen Städten in jüngerer Zeit lehrt, dass die Armee autoritäres Zentrum eines aggressiven Nationalismus ist.

Das zweite Gefühl der Überraschung entsprang daraus, dass es trotz wiederkehrender Spekulationen über einen möglichen Putsch keine konkreten Anzeichen für einen Zwist zwischen Armeeführung und Regierung gab. Im Gegenteil, im Krieg gegen die kurdische Bewegung war eine neue Allianz zwischen Neo-Faschisten der MHP, kemalistischen Hardlinern in der CHP und den regierenden Islamisten geschmiedet worden. Und spätestens seit 2014 harmonieren die Armee und ihr näheres Umfeld, zu dem auch das Netzwerk ehemaliger Offiziere gehört, mit der Regierung in wichtigen politischen Belangen. Bereits vor zwei Jahren wurden Dutzende hochrangige Offiziere wieder auf freien Fuß gesetzt, die im Zuge des Ergenekon-Prozesses verhaftet worden waren. Zwei gemeinsame Feinde – die kurdisch-demokratische Bewegung und die Gülen-Bewegung – bildeten die Basis dieser Annäherung.

Wer führte die Regie?

Außerdem hatte die Regierung seit 2010 die höheren Ränge der Armee Schritt für Schritt ausgetauscht, so dass einfach nicht vorstellbar war, dass der Regierung von dieser Seite ernsthafte Gefahr drohen sollte. Und trotzdem schien ein Putsch zu laufen. Der Generalstab war scheinbar ausgeschaltet bzw. festgesetzt worden. Erste Informationen über die Putschisten von regierungsnahen Medien verbreiteten das Gerücht, die “terroristische” Gülen-Sekte stecke hinter dem Geschehen. Wie sie zu dieser Information wenige Augenblicke nach Beginn der Aktionen gelangten, ist bis jetzt im Dunkeln geblieben. Die Putschisten verheimlichten ihre Identität. Im von ihnen besetzten staatlichen Fernsehen ließen sie eine erste Erklärung von einer Nachrichtensprecherin verlesen, in Duktus und Wortwahl sehr eng an die „berühmte” Rede Atatürks an die Jugend angelehnt.

Unterdessen besetzten Soldaten den Taksim-Platz und den Istanbuler Flughafen. Präsident Erdoğan erschien im Privatfernsehen, das die ganze Zeit mehr oder weniger störungsfrei lief, per Handyzuschaltung und rief die Bevölkerung dazu auf, auf die Straße zu gehen und sich hinter die Demokratie zu stellen. Es wurde berichtet, Erdoğan befinde sich im Flugzeug und fliege nach Istanbul.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt, etwa drei bis vier Stunden nach Beginn des Putsches, kamen starke Zweifel am Gelingen desselbigen auf und bald danach auch Zweifel an seiner Echtheit. Wozu sollte es gut sein, mit einer Handvoll junger Soldaten nicht den Taksim-Platz, wie es hieß, sondern lediglich die Statue auf dem Platz zu besetzen? Wer sollten die Anführer dieser Putschisten sein, die sich kein Gesicht gaben und keinerlei Anstalten machten, die Öffentlichkeit für sich zu mobilisieren, während die Gegenmobilisierung eingeleitet wurde? Welchem Zweck außer Medienwirksamkeit diente die Besetzung der Bosporus-Brücken? Wie kann es sein, dass der Staatspräsident sich die ganze Zeit in einem Flugzeug befunden haben soll, dann auf dem Istanbuler Flughafen landete, während Kampfjets über Ankara sausten und das Parlament bombardierten? Und überhaupt: welche strategische Bedeutung hatte die Bombardierung des Parlamentsgebäudes?

Die Vorbereitung eines Putschs, sollte man annehmen, erfordert einen gewissen Grad an Absprachen. Ein Plan und eine Koordinierung sind erforderlich. Wie, mit welchen Mitteln soll dies im 21ten Jahrhundert ausgerechnet in der Institution, in der jeder Schritt Überwachungs- und Disziplinierungsmechanismen unterliegt und deren Schaltstellen – wie erwähnt – maßgeblich von der AKP besetzt worden war, vorbereitet worden sein, ohne dass die verschiedenen Geheimdienste auch nur Wind davon bekamen?

Gottes Segen

Vieles passt einfach nicht. Der Putsch wirkt wie eine Inszenierung, bei der allein die Darsteller an die Echtheit ihrer Rolle glaubten. Doch wer hatte die Regie inne und wer behielt den Überblick? Ertuğrul Kürkçü, Parlamentsabgeordneter der kurdisch-linksliberalen HDP, vermutet wie inzwischen viele andere auch, dass die Regierung von den Putschplänen einiger Offiziere wusste, den Dingen jedoch ihren Lauf ließ, im Wissen, dass die Putschisten in Armee und Öffentlichkeit weitgehend isoliert bleiben würden.

Dass es so oder so ähnlich gelaufen sein könnte, ist leicht vorstellbar. Wer solche Überlegungen als weit hergeholt abtut, ist jedenfalls vergesslich. Denn es wäre nicht der erste fingierte Putsch, den die Türkei erlebt. Auch bei dem bereits erwähnten Ergenekon-Prozess, der dafür sorgte, dass die AKP in einer kritischen Phase von Liberalen und einigen Linken unterstützt wurde, ging es um einen Putschversuch von Generälen. Dieser wurde jedoch nie nachgewiesen. Die beschuldigten Offiziere befinden sich wieder auf freiem Fuß, ohne dass je ein Hahn danach krähte, wie es denn sein kann, dass dieser so genannte Jahrhundertprozess, der die „militärische Vormundschaft“ ein für alle Mal beenden sollte, sang- und klanglos im Nichts versandete.

Warum sollte die AKP solcherart Bewährtes nicht wiederholen? Und hatte nicht der Chef des Geheimdienstes Hakan Fidan bei einer Unterredung mit dem damaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu im Jahr 2014 gesagt, dass, wenn der politische Wille vorhanden sei, “ich 4 Leute auf die andere Seite [nach Syrien] schicke, die 8 Raketen [auf türkisches Gebiet] abfeuern”, um einen Kriegsgrund zu fabrizieren?

Doch noch wichtiger ist, dass die nachfolgenden Entwicklungen für Kürkçüs Version sprechen. Die AKP hatte es dringend nötig, ihre Legitimationsbasis zu erneuern. Im Innern sorgte die Normalisierung der (ohnehin nur noch an der ideologischen Oberfläche angespannten) Beziehungen mit Israel für erhebliche Verstimmung. Vor kurzem wies Erdoğan die gegen die Annäherung an Israel protestierenden Islamisten, die auch das Mavi Marmara-Schiff starteten, das 2010 die Gaza-Blockade Israels durchbrechen sollte, brüsk zurecht, sie hätten ja auch nicht um seine Erlaubnis gefragt, als sie sich mit Israel anlegten. Gegenteilige Aussagen Erdoğans, die Gaza-Flottille habe seine ausdrückliche Zustimmung gehabt, sind noch gut in Erinnerung, womit ein Glaubwürdigkeitsproblem entsteht. Die gläubige und naive Basis musste wieder von der „rechtschaffenen Sache“ überzeugt werden. Der Putsch kommt hier wie gerufen, oder wie Erdoğan sagte: Er ist ein Segen Gottes.

„Gottes Segen“ ist auch die nun entstandene Möglichkeit, in der staatlichen Bürokratie ein weiteres Mal gründlich aufzuräumen. Offenbar geht es nicht nur um die Armee. 2.750 Richter und Staatsanwälte sollen vorläufig ihres Amtes enthoben, gegen viele von ihnen sollen Haftbefehle erlassen worden sein. Zwei Verfassungsrichter wurden verhaftet, ein Novum in der Geschichte der Türkei. Sie wurden noch vom damaligen Präsidenten Abdullah Gül ernannt. Inzwischen geht es offenbar nicht mehr um kemalistische Überbleibsel in der Bürokratie, sondern um Personal, das von der AKP selbst eingesetzt wurde, nun jedoch nicht mehr ganz auf Linie liegt. Die Schnelligkeit mit der die AKP vorgeht, ist ein weiteres entlarvendes Moment, das für Kürkçüs These spricht. Von der Dichte der Ereignisse offenbar überrascht kam kaum jemand auf die Idee, danach zu fragen, was denn die Richter und Staatsanwälte mit dem Putsch zu tun haben. Niemand weiß, was konkret gegen sie vorliegt.

Überraschungsmoment nutzen

Der echte Putsch folgt nun auf den offensichtlich fingierten Putsch. Die Aufforderung Erdoğans an die Bevölkerung noch mindestens eine Woche auf der Hut zu bleiben, lässt erahnen, dass eine größere “Säuberungsaktion” durchgeführt werden soll, von der auch weitere Institutionen wie Universitäten betroffen sein könnten, bevor sich der Nebel auflöst und Widerstand formieren kann. Unter “normalen” Umständen ist unvorstellbar, tausende Bürokraten auf einen Schlag auszuschalten.

In dieser Situation ist es ein Zeichen sonderbarer Schwäche, dass sich die Oppositionsparteien – allen voran die HDP – auf eine gemeinsame Erklärung mit der Regierung einließen, die vor Demokratie-Prosa trieft, in der es heißt, der Wille des Volkes müsse geachtet werden. Als ob nicht diese Regierung seit Jahren eine Hexenjagd auf Oppositionelle organisiert, sich an keine Gesetze gebunden fühlt und den Willen des Volkes insbesondere aber nicht nur in den kurdischen Kommunen mit den Füßen tritt.

Das Überraschungsmoment wirkt stark. Der fingierte Putsch hat die AKP mit einer Initiativhoheit ausgestattet, die sie voll ausschöpfen wird. Der von ihr mobilisierte Mob auf den Straßen, der in der eben erwähnten gemeinsamen Erklärung des Parlaments als heldenhaftes Volk bezeichnet wird, das sich schützend vor die Demokratie stellte, fordert die Todesstrafe für die Putschisten und vollzieht dies offenbar gleich selbst mit IS-Methoden. Bilder eines enthaupteten Soldaten und von weiteren Gefesselten, die mit Schlägen aus der aufgebrachten Menge traktiert werden, machen die Runde. Die AKP hat eine Hoheit über die Straße hergestellt, die von islamistischen Parolen widerhallt. Angriffe auf kurdische, alevitische und säkulare Viertel finden statt, der islamisch-faschistische Mob durchläuft offensichtlich seine Inthronisation als Straßenmacht.


Bitter ist die von der überraschten Opposition und den Medien geleistete Wiederherstellung der Moralhoheit, die die AKP spätestens mit dem Juni-Aufstand verloren hatte. Zwar wird dieser Zustand ganz sicher nicht lange vorhalten, aber möglicherweise lange genug, um weitere entscheidende Schritte in die Diktatur zu tun.