Donnerstag, 14. April 2016

Die Akademie, der Krieg und die Zensur – Ein Interview mit Ersin Vedat Elgür

Von İsmail Doğa Karatepe

Mehr als 1.000 „Akademiker*innen für den Frieden“ haben die Regierung der AKP in einer gemeinsamen Erklärung für ihr gewaltsames Vorgehen gegen die kurdische Bewegung kritisiert und eindringlich für eine politische Lösung des Konflikts geworben. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan griff die Unterzeichner*innen daraufhin scharf an. In der Folge wurden viele von ihnen festgenommenen, mit Jobverlust bedroht oder anderweitig unter Druck gesetzt. Über die Wirkung des Aufrufs auf das politische Klima in der Türkei, über Zensur und Selbstzensur sprachen wir mit dem Dozenten Ersin Vedat Elgür von der Dicle Universität.

Die im Januar 2016 veröffentlichte »Erklärung der Akademiker*innen für den Frieden« (türkisch: Barış İçin Akademisyenler, BAK) stieß sowohl in der Türkei als auch im Ausland auf großes Echo. Unter dem Titel »Wir werden keine Komplizen dieses Verbrechens« schildert die Erklärung, wie der türkische Staat bei den bewaffneten Auseinandersetzungen der vergangenen Monate in Südostanatolien Rechte und Freiheiten verletzt hat, und äußert die Hoffnung, Gewalt und Ausgangssperren mögen ein baldiges Ende finden. Die Erklärung wurde nicht nur von Wissenschaftler*innen aus der Türkei, sondern auch von berühmten ausländischen Intellektuellen wie David Harvey, Noam Chomsky, Immanuel Wallerstein, Judith Butler und anderen unterschrieben — insgesamt 1.128 Unterzeichner*innen. Die AKP-Regierung und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan griffen die Erklärung und die Unterzeichner*innen scharf an. Zahlreiche Akademiker*innen in der Türkei wurden daraufhin verhaftet oder gekündigt. Über diese Erklärung, ihre Auswirkungen und die Zensur im akademischen Betrieb sprachen wir mit dem Dozenten der Dicle Universität und dem Herausgeber des Verlags NotaBene Yayınları, Dr. Ersin Vedat Elgür.

Infobrief Türkei: Warum wurde die Erklärung von der Regierung derart angegriffen? Früher wurden ja auch schon solche Aufrufe veröffentlicht…
Ersin Vedat Elgür: Interessant, das ist die erste Frage, die sowohl die Unterzeichner*innen sich fragen als auch Interessierte uns stellen: Wie kann es sein, dass in unserer heutigen Welt eine vergleichsweise harmlose politische Aktion wie eine Unterschrift eine derart scharfe Reaktion auslöst?
IT: Und, zu welchem Schluss seid ihr gekommen?
EVE: Ich bin der Auffassung, dass es zwei miteinander verbundene Gründe dafür gibt. Zum einen die reaktionäre Alltagspolitik der AKP, die - jenseits von Disziplin und Kontrolle - weder Hoffnung noch ein positives Versprechen für die Zukunft anzubieten hat. Deswegen werden uns Religion und Moral als etwas Politisches verkauft. Das Feld, auf dem diese Moral – die des politischen Islam – gilt, ist infolge des neoliberalen Gesellschaftsmodells aber korrumpiert. Deswegen inszeniert die die AKP ihre Politik als eine anti-politische, auf ethnische und religiöse Zugehörigkeiten basierende Polarisierung. Es war nur folgerichtig, dass sie die Erklärung der Akademiker*innen instrumentalisieren würde — um all die Menschen an sich zu binden, die diesen Politikstil teilen.
IT: Du sprachst von einem weiteren Grund…
EVE: Ja, der hat damit zu tun, dass nicht nur die AKP, sondern alle konservativen und rechten Parteien versuchen, über die Fundamente der Politik zu schweigen, also z.B. Kritiken an den grundlegenden Strukturen dieser Gesellschaft zu verhindern.
IT: Und, ist das in diesem Fall gelungen?
EVE: Nein. Der instinktive Versuch, einen politischen Aufruf durch Kriminalisierung zu einer »Straftat« zu machen, führte im Ergebnis zu einer viel größeren Reaktion und damit zu weit mehr politischem Einfluss als die ursprüngliche Unterschriftenaktion. Auch die umstrittene Passage in der Erklärung – »im Rahmen der Forderungen des kurdischen politischen Willens« – verlieh dem ausdrücklich politischen Anspruch des Aufrufs Gewicht.
IT: Die meisten haben aufgrund des Drucks ihre Unterschriften zurückgezogen. Welche Auswirkungen hatte das?
Ich glaube, hier liegt eine Fehlinformation vor: Die Zahl derjenigen, die ihre Unterschrift zurückzogen, ist sehr niedrig. Mehr noch: Infolge der scharfen Reaktion durch die Regierung haben trotz des allgegenwärtigen Drucks rund 1.000 weitere Akademiker*innen unterschrieben. So erhöhte sich die Zahl der Unterschriften auf über 2.000. Keiner unserer Mitstreiter*innen, die ihre Unterschrift zurückgezogen haben, steht nun außerhalb der BAK-Initiative. Vielmehr verfolgen sie gemeinsam mit uns den Prozess.
IT: Aber der Druck hat nicht nachgelassen…
EVE: Bei den ersten Reaktionen auf die Erklärung war zu beobachten, dass beleidigende Aussagen in einer banalen Alltagssprache, fernab jeder politischen Analyse formuliert waren. Erschreckender waren Aussagen wie »unsere Nation weiß genau, wie sie auf solche Leute reagieren wird«, die von der obersten parlamentarisch-politischen Ebene kamen. Ich denke, dass Hetze und Beleidigung zwei Ziele haben: Erstens sollten die Hochschulkommission und die Universitätsleitungen zu Untersuchungen und Entlassungen bewegt werden – die Unterzeichnenden stammen ja aus einer bestimmten Berufsgruppe. Unter Verletzung sämtlicher juristischer und moralischer Prinzipien hatte dies Erfolg. Zudem sollten Staatsanwälte, die sich innerhalb des juristischen Rahmens beweisen wollten, uns mit Strafanzeigen umzingeln. Auch hier waren sie erfolgreich. Derzeit stehen 1.128 Personen unter dem Vorwurf, »Mitglied oder Unterstützer einer Terrororganisation« zu sein, vor Gericht. Unfassbar, aber genau das ist die Situation.
IT: Wie ist es in dieser bedrohlichen Situation um die Moral der Betroffenen bestellt?
EVE: Die Motivation der unterzeichnenden Akademiker*innen ist sehr hoch. Zumal Versuche, in der Bevölkerung schärfere Reaktionen mit vielleicht noch gefährlicheren Folgen zu provozieren, nicht gefruchtet haben. Es ist ja so: Wir unterrichten deren Kinder, wir waren täglich mit ihnen zusammen. Und wir reden hier von rund 2.000 Köpfen mit akademischem Talent und Vermittlungskompetenzen auf hohem Niveau. Wir standen fest auf dem Boden und waren selbstbewusst. Wir hatten die Absicht, ein Problem, das dem Land zehntausende Tote beschert hat, auf die politische Agenda zu setzen – in einem Feld, wo normalerweise persönlicher Ehrgeiz und kurzfristige Programme vorherrschen.
IT: Auch einige Verlage unterstützten die Akademiker*innen mit einem eigenen Aufruf. Welchen Druck mussten sie aushalten?
EVE: Nicht nur Verlage. Wir haben unter der Überschrift »Alle für den Frieden« von Schriftsteller*innen, von Studierenden bis zu den Gewerkschaften viel Unterstützung erfahren. Der Druck hat nach dieser breiten Unterstützung unterschiedliche Formen angenommen. So wurden z.B. die Unterzeichner*innen des Aufrufs »Literaten für den Frieden« durch einen Beschluss des Erziehungsministeriums von Schullesungen ausgeschlossen. Das Ministerium für Kultur beschloss, von den uns unterstützenden Verlagen nichts mehr zu kaufen. Auch wenn kein offizieller Erlass vorliegt – das ist die Praxis.
IT: Was ist das konkrete Ausmaß dieser Maßnahmen?
EVE: Laut dem fast täglich aktualisierten Atlas der Unterdrückung der BAK-Initiative wurden gegen 689 Personen Verwaltungs- und Gerichtsermittlungen eröffnet, 38 wurden entlassen, 6 beurlaubt, 47 bedroht und 37 nach Polizeirazzien in Privaträumen festgenommen. Und schließlich wurden 3 Personen inhaftiert, der britische Akademiker Chris Stephenson wurde ausgewiesen, eine weitere Genossin kann aufgrund eines gegen sie erlassenen Haftbefehls nicht einreisen. Und all das passierte just in der Woche, in der inhaftierte Mitglieder des IS mit der Begründung »keine Fluchtgefahr« freigelassen wurden. In einer Zeit, in der die gewaltvollen Auseinandersetzungen in Cizre, Nusaybin, Sur, Bağlar und Yüksekova hunderte Tote forderten und mitten in Ankara und İstanbul Selbstmordattentate verübt wurden. Was kann die Berechtigung unserer Forderung nach Frieden und einer »echten politischen« Lösung anschaulicher unterstreichen?
IT: Konntet ihr nach den Reaktionen der Regierung ein Solidaritätsnetzwerk aufbauen?
EVE: Ja, das ging zum Glück schnell. Denn seit 2012 gibt es eine bestehende BAK-Struktur inkl. ehrenamtlicher Anwält*innen, die eine schwere Last schultern. Zwar haben wir zur Organisationspraxis und zu politischen Aktionen teils unterschiedliche Auffassungen. Aber die Forderung nach sofortigem Frieden in der kurdischen Frage sowie unser Wille, dem gegen uns alle gerichteten Druck standzuhalten, konnte manch trennenden Unterschied überwinden. Alle sind müde, aber alle lächeln auf eine provokante Weise.
IT: Habt ihr auch Unterstützung von Kolleg*innen bekommen, die den Aufruf nicht unterschrieben haben?
EVE: Ich hatte ja gesagt, dass trotz der Drohungen und des Drucks 1.000 neue Unterschriften hinzukamen. Das war für die ersten 1.128 sehr bedeutsam. Es gab auch Menschen, die dem Text inhaltlich widersprochen haben, was völlig normal ist. Rund 700 Personen haben sich mit der BAK solidarisch erklärt. Regierungsnahe Akademiker*innen starteten eine erfolglose Unterschriftenaktion gegen die BAK.
IT: Inwiefern erfolglos?
EVE: Sie haben einen banalen Text veröffentlicht, voller Beleidigungen, mit Rechtfertigungen für das Vorgehen der Regierung und ohne irgendeinen konstruktiven Vorschlag. Dennoch war das wichtig, weil es zeigte, wie viele Akademiker*innen ihren Kolleg*innen das Recht auf Kritik und freie Meinungsäußerung absprachen. Es waren viele. Hier zeigt sich das Ergebnis der furchtbaren Kaderpolitik der letzten 10 Jahre [1].
IT: Was ist damit gemeint?
EVE: Ich spreche hier von einer Kaderpolitik, die vom Rektor bis zum Verwaltungspersonal reicht. Sie werden für ihre Posten bestimmt, haben aber von Universität oft wenig Ahnung. Das führt zu Spannungen. Aber eigentlich ist das Problem noch grundlegender: Die Universitäten in der Türkei haben kapituliert.
IT: Wie bitte??
EVE: Sicherlich wäre das eine längere Diskussion wert, aber ich denke, dass die Universitäten in der Türkei – also die Orte, an denen Wissensproduktion stattfindet, quasi das intellektuelle Rückgrat eines Landes – sich der neoliberalen Verwertungs- und Verwaltungslogik unterworfen haben. Insofern müssen wir, wenn der juristische und jobbezogene Druck nachlässt, über dieses viel größere Problem gründlich nachdenken. Hinter unseren Vorschlägen zur kurdischen Frage konnten wir eine große Masse versammeln. Manchmal kann eine singuläre Positionierung eine solche Kraft entfalten, dass sie auf das universelle Problem darunter verweist.
IT: Manchmal beginnt die Schranke ja schon im Kopf. Wie verhält es sich mit Selbstzensur in der akademischen Welt?
EVE: Einerseits findet auf der persönlichen Ebene Selbstzensur statt, ja. Andererseits sind wir als BAK auch kollektiv sichtbar geworden. Durch die Veröffentlichung und Verbreitung unserer Deklaration haben wir eine Art Zensur-Schranke errichtet, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Ein Versuch.
IT: Dennoch wird weiter zensiert und gedroht…
EVE: Das Problem ist: Gerade zur kurdischen Frage ist es in den etablierten Medien unmöglich, einen politischen Vorschlag zu unterbreiten, der außerhalb der Regierungsperspektive steht – wobei wir nicht mal sicher sind, ob die Regierung außer der gewaltvollen Lösung überhaupt eine Perspektive hat. In den Medien sind aufgrund der Eigentümerstrukturen keine oppositionellen Stimmen mehr zu hören [2]: letztlich zeigt die Verhaftung der bekannten Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül die Situation der Zensur im Lande.
IT: Gibt es also gar keinen Ort der Kritik mehr?
EVE: Doch, natürlich in den sozialen Medien. Die meisten Strafanzeigen wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts erfolgen gegen Postings in den sozialen Medien. Es ist schon zur Routine geworden, dass an bestimmten Tagen oder nach Vorfällen, von denen man denkt, sie könnten der Regierung schaden, das Internet verlangsamt wird. Insofern versuchen wir als BAK ein Feld zu öffnen, in dem wenigstens über einen Fall debattiert werden kann, da inhaltliche Diskussion sonst kaum möglich ist.
IT: Wurde der Zeitpunkt der Erklärung also bewusst gewählt oder war es schlicht nicht mehr auszuhalten?
EVE: Vieles zeichnete sich schon seit einiger Zeit ab. Die Intensivierung der Zusammenstöße zwischen dem Staat und der kurdischen Bewegung sowie die nicht aufhörenden Bombenattentate nicht nur in den kurdischen Gebieten, sondern auch in den westlichen Metropolen, offenbarten eine Spirale der Gewalt. Dann weigerte sich die Regierung, das Wahlergebnis vom 7. Juni 2015 zu akzeptieren – bei dem die kurdisch-linke Opposition dank der Zusammenarbeit von kurdischer Bewegung und türkischen Linken rund 13 Prozent erringen konnte. Schon am Tag danach war die faktische Kriegserklärung durch die Regierung voraussehbar.
IT: Wie das?
EVE: Wir wussten, dass die Regierung mit der Armee, deren Macht sie vorher geschwächt hatte, in der Frage des Krieges gegen die Kurd*innen zu einer Übereinkunft gekommen war. Es war absehbar, dass dieser Krieg aufgrund der Erfahrungen der kurdischen Bewegung in Rojava nicht wie bisher geführt werden konnte. Die Betonung der Notwendigkeit einer friedlichen Lösung wurde genau dann unumgänglich, als das Voraussehbare eintrat und die auf Rache orientierten Kriegstaktiken des Staates sichtbar wurden. Aber wie hätten wir unserer Stimme Gehör verschaffen können? Die Medien waren für strukturelle Analysen über die Türkei und den Nahen Osten nicht zugänglich. In den Fernsehsendungen war es nicht möglich, irgendeinen Analysten zu finden, dessen kognitiven Fähigkeiten etwas höher waren als die eines Schülers der Mittelstufe.
IT: Welche Strategien können Intellektuelle gegen Zensur und Selbstzensur in der Türkei entwickeln?
EVE: Ich bezweifle, dass die akademische Welt in der Türkei gegenwärtig überhaupt in der Lage ist, solche Strategien zu entwickeln. Denn die neuen Formen der Arbeitsteilung und Arbeitskontrolle an den Universitäten engt das intellektuelle Schaffen ein. Wir konnten bis jetzt auf die klassischen Mittel wie Zeitschriften, Kongresse, Verlage etc. als Felder der Meinungsäußerung zurückgreifen. Aber infolge der strukturellen Veränderungen des gesamten akademischen Betriebs wurden diese Mittel so sehr begrenzt, dass wir praktisch nur unter uns sprechen können.
IT: Also am besten raus aus den Unis?
EVE: Unsere Erklärung liefert zumindest einige Hinweise, wie neue Formen der Kritik aussehen können. Aber im Grunde müssen wir aus diesem ganzen Prozess mit einer neuen Aufgabe rausgehen: Wir müssen Strukturen schaffen, die für die gesellschaftliche Opposition in ihrem Kampf um Demokratie als Wissensdepot fungieren. Das bedeutet jetzt aber nicht, ganz außerhalb des akademischen Betriebs zu agieren oder die Universitäten zu verlassen. Dennoch müssen wir ihre Grenzen und Unzulänglichkeiten aufzeigen, sie hier und jetzt hinterfragen.
IT: Ein Wissensdepot für die Widerständigen – und dann?
EVE: Es ist natürlich bedeutsam, wenn z.B. die Zensur individuell hinterfragt und abgelehnt wird. Aber Widerstand entsteht nicht allein durch Ablehnung, sondern dadurch, dass wir ein Feld schaffen, auf dem das Abgelehnte seine enorme Bedeutung verliert. Damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: Wir müssen dazu beitragen, dass sich eine verbindliche politische Praxis mit einem positiven Versprechen für die Zukunft entfalten kann.

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[1] Vgl. hierzu auch den Text „Etwas Bleibendes Schaffen – Elemente islamisch-konservativer Kaderbildung“ von Errol Babacan in dieser Ausgabe.

[2] Vgl. hierzu auch den Text „Presse- und Meinungs(un)freiheit in der Türkei“ von Fitnat Tezerdi in dieser Ausgabe.