Donnerstag, 26. Februar 2015

Wohin hat sich der Geist von Gezi verflüchtigt?

Interview mit Ezgi Pınar
Von Axel Gehring

Wie kam es zur Gezi-Revolte, wie zu ihrem Ende und welche Organisationsformen erwuchsen aus ihr? Ursprünge und Entwicklung der Bewegung rekonstruiert dieses Gespräch und blendet dabei ein, was in der dominanten Erzählung über Gezi gern vergessen wird. Die Beteiligung der organisierten Linken, die den Raum für die Foren überhaupt erst schuf und dennoch an ihre Grenzen stieß.

Infobrief Türkei: Ich würde gern mit den Wochen vor der Revolte beginnen. Während der dritten Amtszeit der AKP nahm ihre autoritäre Tendenz stark zu, die AKP intensivierte ihre konservative und nationalistische Politik. So traf beispielsweise das Abtreibungsgesetz auf starke Kritik von Feministinnen. Der Bombenanschlag in Reyhanlı und der Luftangriff von Roboski schockierten die Menschen. [In der nahe der syrischen Grenze gelegenen türkischen Kleinstadt fand im Mai 2013 ein Bombenanschlag statt, dessen Aufklärung von den Behörden behindert wurde; in Roboski wurde durch einen türkischen Luftangriff eine Gruppe kurdischer Schmuggler getötet. I.T.]

Ezgi Pınar: In Roboski starben viele Kurden, dies verstörte die Menschen – auch ganz normale Türken. Auch schon vor diesem Ereignis hatte sich die Regierung sehr desinteressiert und unprofessionell im Hinblick auf das Erdbeben im [kurdischen I.T.] Van gezeigt. So kam es schließlich dazu, dass sich der Ärger bei den Menschen anstaute, zumal die Regierung schon einige Monate zuvor [im Oktober 2012 I.T.] beschlossen hatte, Syrien zu beschießen. Auch diese Attacke trug zur Politisierung der Menschen bei.

Die dritte Brücke am Bosporus, sowie deren Namensgebung [benannt nach Yavuz-Sultan-Selim, der zahlreiche Aleviten ermorden ließ I.T.], waren für viele Menschen, insbesondere Aleviten, inakzeptabel und provokant. Es gab zwar bereits Gespräche zwischen der Regierung und alevitischen Gruppen über die Brücke, doch dann kam es unerwartet zu dieser provokanten Namensgebung. Auch das Topçu Kışlası [das ursprünglich geplante Einkaufszentrum, das nach einer osmanischen Kaserne benannt und anstelle des Gezi-Parks gebaut werden sollte I.T.], hatte eine hohe symbolische Bedeutung für die ideologische Restrukturierung der Gesellschaft in eine konservative und nationalistische Richtung und für die sunnitische Basis der AKP. Dies war ein weiterer Kritikpunkt, deswegen nahmen Aleviten an den Gezi-Protesten teil – insbesondere in der Provinz Hatay. [In dieser Provinz an der syrischen Grenze leben recht viele Aleviten, die von der AKP per se der Nähe zum Assad-Regime bezichtigt werden. Sie gelten aus Sicht zahlreicher sunnitischer Islamisten noch nicht einmal als Muslime I.T.].

All dies hat die Menschen zwar nicht direkt politisiert, aber zur Ansammlung von Verdruss in ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen geführt. Wegen ihrer autoritären Tendenzen begann die AKP auch ihre Allianz mit den Liberalen zu verlieren, die bis dahin Erdoğan unterstützt hatten.

Und nicht zu vergessen: diese Stadtentwicklungsprojekte führen in İstanbul und anderen Teilen der Türkei zur Vertreibung großer Teile der Gesellschaft aus sehr zentralen Plätzen des urbanen Raumes.

Daher waren schon im Vorfeld in den Stadtvierteln, in denen solche Gentrifizierungsprojekte stattfinden, Protestbewegungen aktiv, die einen Anspruch auf die Stadt erhoben. Auch die professionelle Mittelklasse und Studierende litten unter den Projekten. Bereits die Niederschlagung der 1. Mai-Demonstration auf dem Taksim-Platz zeigte die Empörung über die Schließung des Platzes überdeutlich. Die Projekte, die den Platz in Gänze verändern sollten, waren schlicht inakzeptabel für die Menschen.

IT: In den Monaten vor der Gezi-Revolte kam es zu einer Verdichtung von Ereignissen in kurzer Zeit; doch welche Gruppen waren während der Revolte aktiv? Die Gezi-Solidarität rief schon zu Anfang, nach dem schweren Polizeiangriff auf das Protestcamp im Gezi-Park, die Menschen dazu auf Solidarität zu zeigen und in den Park zu kommen.

EP: Ja, sie machten einen Aufruf und viele Menschen folgten ihm wegen der schweren Attacken der Polizeikräfte. Ganz normale Menschen kamen. Zum Beispiel arbeitet meine Schwester in einer Bank und eine Gruppe von Kollegen, die in sogenannten Plazas [Mischungen aus gehobenen Büro-, Shoppingmall- und Wohnkomplexen I.T.] arbeitet, ging dort auch hin und in diesem Sinne war es wirklich eine Massenbewegung. Es waren viele Leute mit unterschiedlichem Klassenhintergrund im Gezi-Park. Während der Gezi-Proteste entstand aus der Solidaritätsplattform Taksim ein Aktionskomitee. Innerhalb dieser Plattform gab es unterschiedliche Gruppen, darunter organisierte Linke und auch revolutionäre linke Gruppen. Diese leisteten einen großen Beitrag, um Gezi in ein emanzipiertes Gebiet zu verwandeln – sie waren viel erfahrener darin, Barrikaden zu bauen und gegen die Polizei zu kämpfen. Von den ganz frühen Tagen Gezis an, gab es den Diskurs, dass der Protest nichts mit der organisierten Linken zu tun habe. Aber soweit ich es sehen kann, geschah es dank ihrer Präsenz, dass die Barrikaden dort errichtet wurden und durch ihren Kampf auf den Barrikaden. Viele junge Leute starben – die meisten davon waren Mitglieder der organisierten Linken. Dies zeigt uns also, dass sie dort wirklich sehr aktiv waren, sie waren ein Teil der Verteidigung des Parks.

Aber es gab da etwas, das sich für die politische Linke sehr anders anfühlte – das Profil der Protestierenden von Gezi unterschied sich sehr von dem der frühen Protesttradition der Türkei: Im Hinblick auf seine Instrumente, sein Gewicht und seinen Zweck. Es war wirklich eine Massenbewegung und brachte verschiedene Gruppen der Gesellschaft zusammen (…) so dauerte es einen Monat bis es schließlich mit einem Polizeischlag gelungen war, die Gezi-Kommune wirklich zu beenden. Während dieser Tage zirkulierten dort viele Menschen, zum Beispiel aus den Plazas: Bis sechs Uhr hart arbeiten und danach ging es zum Gezi-Park. Das zeigte mir, dass Menschen, die in einer solchen wettbewerblichen Atmosphäre arbeiten, Solidarität und kollektive Aktivität brauchten. Zum Beispiel gab es dort einen „Revolutionsmarkt“, wo man sich einfach so und völlig kostenlos Essen nehmen konnte. Obwohl diese Leute Geld haben, bevorzugten sie diese Form der primitiven Tauschbeziehungen. Das kann als ein Ergebnis der Entfremdungsverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft verstanden werden, insbesondere für diese Leute – sie liebten Gezi wirklich und mochten diese Art kollektiver Atmosphäre und der Solidarität. Auch wenn ich die Gezi-Proteste nicht überhöhen möchte, sie zeigten, dass es auch Alternativen zu den Lebensstilen gibt, die uns der Kapitalismus aufzwingt.

Viele unterschiedliche Gruppen, Gewerkschaftsmitglieder, konventionelle linke Organisationen, Liberale sowie Anarchisten waren im Park und kampierten dort über Nacht; wobei sie von einigen organisierten Linken als piknikci (Picknicker) bezeichnet wurden – auch solche weniger harmonischen Dinge passierten. Aber es gab nicht viele Konflikte zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Gezi-Park. Linke Gruppen, die sich ansonsten selbst über die Marschaufstellung zur Mai-Demonstration bekriegen, vermieden derartiges während des Gezi-Protests. Sie waren sich dessen bewusst, dass gerade etwas geschieht, was anders ist und dass sie diesen Geist verteidigen sollten. Ich denke auch, dass die meisten Protestierenden, an derartigem Konkurrenzgebahren zwischen politischen Organisationen kein Interesse hatten.

Nach den ersten Attacken [der Polizei I.T..] begannen auch revolutionäre linke Organisationen damit, sich im Park aufzuhalten und hatten dort auch ihre Stände, an denen sie Zeitungen verkauften. Ein anderer Aspekt, der unbedingt erwähnt werden sollte, ist die TGB (Türkische Jugend Union), das sind Nationalisten. Die türkische Regierung versuchte Gezi als ein Spiel zwischen der CHP [der kemalistischen Oppositionspartei I.T.] und den Nationalisten darzustellen. Sie versuchte die Protestierenden als von Nationalisten manipulierte Subjekte zu zeichnen. Aber es funktionierte nicht, denn die Nationalisten waren nicht sehr dominant im Park. Auch ich sah, wie einige Menschen eine Öcalan-Flagge öffneten, während dort die TBG-Mitglieder waren, aber es passierte nichts. Es war sehr interessant, sie kamen einander zwar nicht sehr nahe, aber sie kämpften auch nicht gegeneinander. Dort gab es einige Tendenzen für Konflikte, aber diese wurden von anderen Teilen Gezis eingedämmt und die Solidaritätsplattform-Taksim war der führende Faktor in diesem Prozess.

IT: Es entstand also eine sehr breite und vielschichtige Bewegung. Wie wirkte sich das auf die Formulierung der Forderungen aus?

EP: Die Forderungen bezogen sich vor allem auf die lokale Ebene. Die Taksim-Solidarität erklärte die Aufgabe des Taksim-Projektes und das Recht im Park verbleiben zu dürfen zu Kernforderungen und dann gab es da noch Forderungen den Bau der dritten Brücke einzustellen. In den ersten 15 Tagen der Revolte listete man vier oder fünf Forderungen auf, die hauptsächlich auf Gezi-Themen zielten.

IT: Während der Proteste riefen die Menschen doch auch „Hükümet istifa“ und „Tayyip istifa“ / „Regierung tritt zurück“ und „Tayyip tritt zurück“?

EP: Ja, das riefen sie, aber das war Rhetorik, das erwarteten sie nicht ernsthaft. Eine andere Forderung der Taksim-Solidarität war die Bestrafung der Polizeikräfte, die die Öffentlichkeit terrorisiert und auch einige Menschen umgebracht hatten. Sie forderten auch die Amtsenthebung des Gouverneurs und des Polizeipräsidenten. Sie waren kleine, lokale Forderungen – keine großen, die sich auf die ganze Türkei bezogen. Es waren selbstverständlich politische Forderungen, aber sie enthielten keinen Bezug zur großen nationalen Ebene.

IT: Während meiner letzten Tage hier in İstanbul habe ich jeden Tag mindestens einen Protest gesehen, aber die meisten waren nicht sonderlich groß. Der vielleicht Größte fand letzte Woche mit etwa 2000 bis 4000 Menschen in Beşiktaş statt. Die Dinge haben sich also verändert. Was ist das gegenwärtige Stadium der Protestbewegung?

EP: Ja, es hat sich etwas verändert. Wir können Gezi als Rebellion bezeichnen, eine Rebellion geschieht und ebbt wieder ab. Das ist logisch und zu erwarten. Wohin hat sich der Geist von Gezi verflüchtigt? Als erstes sollten wir über die Foren sprechen: Tayyip [landesübliche Bezeichnung für Tayyip Erdoğan A.G.] war während der ersten Tage im Juni außer Landes als er sagte „Ich gebe euch einen Tag um den Park zu verlassen.“ So begannen die Leute zu diskutieren, was nun zu tun sei. Auch der Bau von Barrikaden war diskutiert worden und ein großes Forum entstand während der Gezi-Besetzung. Weitere Foren fanden während der Gezi-Tage statt, die Menschen lebten dort und es fanden Konzerte statt. Dies war das tägliche Leben von Gezi und es wurde auch ein großes Forum über die Frage veranstaltet den Gezi-Park zu verlassen oder dort zu bleiben – es wurde entschieden zu bleiben. Zum Beispiel sagten einige, traditionelle linke Gruppen, die einen militanten Ursprung haben, wir sollten uns bewaffnen und Gezi mit unseren militanten Kräften verteidigen. Dies wurde interessanterweise auch in den Foren diskutiert. Auf der anderen Seite sagten Menschen „Lasst uns diesen Platz in ein Woodstock verwandeln“ und einige andere forderten die Legalisierung von Marihuana. Du siehst die Breite der Forderungen. Nach diesem Forum wurde die Entscheidung gefällt zu bleiben und der große Streik [zu dem linke Gewerkschaften aufgerufen hatten I.T.] fand statt (…).

Du kennst sicher auch den Fall vom Divan Oteli [Im Divan Hotel, das einer großen Holding gehört und sich in der Nähe vom Gezi-Park befindet, konnten während der Proteste die Menschen Zuflucht vor der Polizei finden I.T.] und ähnliche Ereignisse, wie zum Beispiel die Unterstützung durch Cem Boyner [Chef der Boyner Holding I.T.], der sagte: „Ich bin çapulcu“, sowie die Unterstützung durch die Garanti Bank und ihr Management: „Wir sind alle çapulcus“. [Tayyip Erdoğan nannte die Protestierenden çapulcus – Plünderer I.T.] Dies zeigt, wie auch die Bourgeoisie während der Proteste Stellung bezog. Und für einen kurzen Moment dachten einige, die Spaltung der Eliten sei zu nutzen. Erdoğan reagierte darauf mit der Behauptung die „Zinslobby“ stünde hinter den Protesten.

Nach der Räumung des Gezi-Parks rief die Gezi-Solidarität dazu auf, sich jeden Sonntag auf dem Taksim-Platz zu treffen. Sonntags dorthin zu gehen, hieß dort sonntags Polizeiangriffe zu erleben und durch die Straßen von Beyoğlu getrieben zu werden. Das war Alltag auf der İstiklal [Haupteinkaufs- und Ausgehmeile I.T.], auch während der Wochentage – aber mit die größten Angriffe fanden an Sonntagen statt. Hingehen, Polizeiintervention, sich wieder versammeln. Und während dieser Tage begannen sich gewisse zivil-paramilitärische Kräfte zu formieren, die Leute attackierten. Diese kamen aus Kasımpaşa, jenem Stadtteil direkt neben Beyoğlu, in welchem Tayyip Erdoğan lange gelebt hatte und der sich stark der AKP verbunden fühlt.

Foren entstanden überall in İstanbul und in verschiedenen großen Städten und in diesen Foren gab es einen Sinn dafür, Demokratie auf lokaler Ebene zu erleben. Die Menschen in diesen Foren waren nicht besonders politisiert, sie interessierten sich mehr für Bürgerrechte, lokale Angelegenheiten, wie Parks oder Wasser und Verkehrsprobleme in der Nachbarschaft. Aber die Leute dort begannen zum ersten Mal in ihrem Leben öffentlich über ihre Probleme zu sprechen. Während dieser Zeit – es war Sommer und dieser war recht angenehm für die Foren – machten die Menschen in der Türkei eine einzigartige Erfahrung, die es so in der türkischen Gesellschaft vielleicht zuletzt in den siebziger Jahren gegeben hatte. Die Menschen begannen Demokratie in ihrem täglichen Leben zu erfahren und fingen, durch diese Foren angespornt, damit an mehr Demokratie zu fordern.

Man sollte aber auch die Unterschiede zu den Protesten oder Foren an den eher zentralen Orten der Stadt sehen. In den Peripherien İstanbuls oder anderen Städten waren die Dinge anders. Du solltest daran denken was zur gleichen Zeit in Ankara oder İzmir geschehen ist. Die Polizeiangriffe in Ankara waren zum Beispiel äußerst hart. Die Protestierenden schafften es noch nicht einmal sich auf dem Kızılay-Platz zu versammeln oder sie versuchten den Kuğulu-Park wie im Fall von Gezi zu befreien und scheiterten, weil die Polizeiattacken so viel härter waren. Man sollte auch diesen Aspekt von Gezi mitbedenken.
Aber die Bedeutung der Foren begann abzunehmen, weil sie nicht in etwas Organisiertes transformiert werden konnten und dort keine Organisation erwuchs, nicht einmal für Kommunalwahlen. Organisiert zu sein, gehörte aber zum Kern der Diskussionen. Da waren konkrete Forderungen des Gezi-Protestes, doch als dieser zur nationalen Revolte erwuchs, gab es keinen Plan mehr dafür was zu tun war. Traditionelle linke Organisationen realisierten, dass da eine Lücke zwischen den Massen und den linken Organisationen war und versuchten in gewisser Weise sie zu schließen. Aber wie konnte diese Lücke geschlossen werden? Ich denke, dass auch die Taksim-Solidarität nicht zu 100% sicher war, was zu tun ist, um den Gezi-Prozess in etwas Greifbares zu transformieren. Sie hatten keinen Plan, soweit ich weiß.

IT (Axel Gehring): Vielen Dank für das Gespräch.

İstanbul 24.09.2013

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Ezgi Pınar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der İstanbul Üniversitesi