Donnerstag, 19. Dezember 2013

Die Kommune vom Gezi-Park und der Klassenkampf in der Türkei und Kurdistan


Von Michael Backmund


Die Aufstände in der Westtürkei und die Kommune vom Gezi-Park haben die Türkei radikal verändert und die Voraussetzungen für soziale Kämpfe in der Türkei und in Kurdistan deutlich verbessert. Zugleich stehen sie in einer engen Verbindung mit der Entwicklung in Syrien und dem gesamten kurdischen Raum, denn ohne Frieden droht ein Ersticken der (Gezi-)Aufstandsbewegung durch die in einer schweren Krise befindliche repressiv-islamistische AKP.   

Auf der Fahrt zurück von Tarlabaşı nach Eminönü begann der junge Taxifahrer auf dem Weg durch die verstopften Straßen nach seiner Frage, ob wir gerade auf dem Taksimplatz gewesen seien, zunächst leise und dann immer selbstbewusster zu erzählen: »Auch ich bin ein Çapulcu! Drei Tage habe ich im Gezi-Park übernachtet. Diese Proteste werden unser Land verändern, die Erfahrungen, die wir jungen Türken, Aleviten, Kurden und viele andere zusammen gemacht haben, kann uns niemand mehr nehmen.« So zufällig und flüchtig die Begegnungen in diesen Istanbuler Juninächten auch sein mochten, so offen und interessiert wurde am Bosporus schon lange nicht mehr über das Schicksal der Türkei und Kurdistans und über die Notwendigkeit einer umfassenden Demokratisierung im gesamten Land gesprochen.
Drei sehr konkrete Momente der Aufstände verweisen auf die strategische Perspektive der Kommune vom Gezi-Park und die Möglichkeiten des Klassenkampfes in der Türkei und Kurdistan: Die Gezi-Proteste haben die herrschende Deutungshoheit der türkischen Eliten und ihrer Massenmedien gebrochen. Bislang waren immer »die Anderen« und insbesondere »die Kurden« die Terroristen. Seit Erdoğan und die AKP die DemonstrantInnen als »Marodeure und Terroristen« bezeichnet, gibt es eine selbstbewusste Antwort der Diffamierten: »Dann sind wir eben alle Marodeure und Terroristen«, riefen sie der Staatsmacht entgegen. Bei den Großdemos am Taksim und im Gezi-Park waren erstmals kurdische Transparente, PKK-Fahnen und Bilder von Abdullah Öcalan ganz selbstverständlich neben den Transparenten von FeministInnen, AnarchistInnen und KommunistInnen zu sehen. Und nach der Ermordung eines kurdischen Jugendlichen in Lice bei Diyarbakır fanden erstmals in Istanbul und der Westtürkei Solidaritätsdemos statt unter dem Motto »Taksim ist überall, Lice ist überall – überall ist Widerstand«. Diese Solidarität einer breiten Protestbewegung in der Türkei mit der kurdischen Freiheitsbewegung als Ausdruck horizontaler Selbstermächtigung eröffnet eine Perspektive für gesamtgesellschaftliche Veränderungen mit einer antihegemonialen und antichauvinistischen Position.
Drei Thesen zur aktuellen Situation in der Türkei und Kurdistan:
1.These:
Die Kommune vom Gezi-Park und die Aufstände in der gesamten Westtürkei haben die Gesellschaft in der Türkei radikal verändert. Das ist – unabhängig davon, wie es weiter geht – der historische Erfolg dieser Aufstände.
2.These:
Dadurch sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Klassenkampf in der Türkei und in Kurdistan deutlich verbessert worden. Es gibt erstmals seit Jahrzehnten wieder eine reale Chance für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der gesamten Türkei.
3.These:
Zwischen den Taksim-Aufständen, dem kurdischen Friedensprozess und der kurdischen Autonomie in Rojava/Westkurdistan sowie der Entwicklung in Syrien besteht ein Wechselverhältnis. Das ist eine Chance und zeigt zugleich die Komplexität der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und die Gefahr einer reaktionären Eskalation. 
Die wichtigsten Akteure und die Dynamik der Aufstände
Diese Gruppen bestimmten die Dynamik der Aufstände:
§  Junge Menschen und Studierende: Sie haben die Nase voll von der autoritären Bevormundung: von Internetzensur, Einschränkung des Alkoholkonsums, patriarchalen Körperpolitiken incl. Abtreibungsverbot,  repressiven Geschlechterrollen und Kleidernormen, sowie von einer Familienpolitik, bei der laut Erdoğan »alle jungen Frauen drei bis fünf Kinder gebären sollen«. Dazu kommen eine rasante neoliberale Umstrukturierung des gesamten Bildungssystems und damit prekäre Zukunftsperspektiven auch für die Mehrheit der angehenden AkademikerInnen. 
§  Frauen, Lesben, Schwule und Transgender: Sie sind von den herrschenden Geschlechtervorstellungen und der autoritär-patriarchalen AKP-Politik besonders stark betroffene gesellschaftliche Gruppen.
§  Junge kurdische Militante in Istanbul – mit den praktischen Erfahrungen und dem Mut, gegen die Polizei zu kämpfen. Sie sind von der urbanen Vertreibungspolitik besonders hart getroffen.
§  Fußballfans als soziale und politische Milieus, die sich der repressiven Polizei, dem Alkoholverbot und einem Politikverbot in den Stadien ausgesetzt sehen. Sie bringen eine lange Tradition als sozialer Raum des subkulturellen »Überlebens« nach dem 1980er Putsch mit.
§  Die sogenannten »Weißkragen«: prekäre ArbeiterInnen in den Dienstleistungsbranchen – von marginalisiert und schlecht bezahlt bis zu extrem gut bezahlten Angestellten (aber freiberuflich-prekär arbeitend)
§  Die alten, erfahrenen Militanten der sozialistischen Linken
§  Und insbesondere auch eine undogmatische neue Linke des 21. Jahrhunderts, die global sehr gut vernetzt und ideologisch auf der Höhe des internationalen politischen Diskurses ist: Seit Jahren aktiv gegen Gentrifizierung, den Abriss des alten Minderheiten- und MigrantInnenviertels Tarlabaşı, im internationalen No-Border-Kampf verankert. Sie ist teilweise involviert in die bisher noch lokalen, aber landesweit erstarkenden Proteste gegen Umweltzerstörung und AKWs und sie ist lokal aktiv gegen die Istanbuler Abschiebeknäste, in den Netzwerken gegen globalen Kapitalismus, Krieg und Patriarchat. Ein Beispiel: Das Netzwerk Our Commons.
Alle zusammen haben einen kreativen neuen Raum geschaffen: Die Kommune vom Gezi-Park war ein Laboratorium, ein Ort des Experiments und des Erfolgs, der Realität von basisdemokratischen Diskussions- und Entscheidungsstrukturen, von der Aufhebung von Kopf- und Handarbeit. Gezi war überall in der Westtürkei, und die Türkei war wie in einem Mikrokosmos auch im Gezi-Park präsent. Es war eine Erfahrung im Geist der »Pariser Kommune«, der Revolten auf den Plätzen der Welt – von Athen über Tunis, Kairo, New York, Frankfurt bis Sao Paulo und Mexico City.
Erstmals hat eine türkisch-kurdische Generation, die in den 1990er Jahren geboren wurde, gemeinsam auf der Straße gegen die Staatsmacht gekämpft: »Wir sind so froh, dass wir endlich in der Gegenwart des globalen Widerstandes gegen Kapitalismus und Krieg angekommen sind«, sagte mir eine politische Freundin am 22. Juni 2013 auf dem Taksim, als erstmals nach der Räumung des Gezi-Parks und den sich anschließenden tagelangen Straßenschlachten wieder zehntausende Menschen auf dem Taksim demonstrierten. Die Antwort auf die alten Politikmodelle der türkischen Linken war eindeutig: Wir brauchen eine neue antiautoritäre und horizontale Bewegung. Denn obwohl Che in der Türkei von allen Linken verehrt wird, gab es in großen Teilen der türkischen Linken bisher keinen kreativ-dynamischen Bruch mit den verschiedenen Spielarten der ML-Partei-Orthodoxien. Auch dafür war die Kommune vom Gezi-Park ein überfälliger Befreiungsschlag und kann eine Brücke zur kurdischen Bewegung sein, die sich nach 1989 wesentlich konsequenter und nachhaltiger als große Teile der türkischen Linken mit den Erfahrungen des autoritären Staatssozialismus auseinander gesetzt hat .
»Als die Herren der klassischen Linken in den Gezi-Park kamen, geriet der Prozess ein paar Tage ins Stocken. Sie erklärten in tagelangen Plena allen ihre ideologisch richtige Einschätzung, über die sie sich natürlich nicht einig waren. Sie blockierten damit vorübergehend die Dynamik des Prozesses. Nach ein paar Tagen haben auch sie kapiert, dass die Kommune vom Gezi-Park bereits erfolgreich funktioniert. Ab da haben auch manche von ihnen etwas Neues gelernt«, erklärte mir eine jüngere Aktivistin ihr Fazit aus dieser Erfahrung der Revolte. 
Das Scheitern des Entwicklungsmodells der AKP
Innenpolitisch: Der zunehmend islamisch- autoritäre Führungsstil von Erdoğan und der AKP hat immer mehr gesellschaftliche Gruppen, insbesondere die städtisch-dynamischen, die Jugend und die Frauen gegen sich aufgebracht. Außerdem stagnieren das ökonomische Wachstum und damit die Attraktivität des AKP-Modells.
Außenpolitisch sind Erdoğans Großmachtträume (als der »neue Sultan am Bosporus«) bereits gescheitert: Nach dem arabischen Frühling pries er sich von Bengasi über Tunis bis Kairo als neuer Statthalter eines neoliberal-islamischen Wirtschaftsraums. Er träumte von einem schnellen Regime-Change in Syrien und der engen Kooperation mit der islamischen Regierung in Tunis und den Muslimbrüdern in Ägypten.. 
Die globale Krise:  Auch die Nato-Verbündeten der Türkei haben keinen realistischen strategischen Plan für die Lösung der globalen und regionalen (Verwertungs-)Krisen des Neoliberalismus. Ein Entwicklungsversprechen für die Mehrheit der Menschen von Irak, Libyen, Tunesien, Ägypten, Syrien über Irak bis Afghanistan und Pakistan gibt es schon lange nicht mehr. Nun droht auch noch das Wirtschaftsmodell der AKP an seine Grenzen zu stoßen. Die bestimmenden Momente der imperialen Politik der EU- und Nato-Staaten sind lang andauernde Kriege und der gleichzeitige Versuch, die wichtigsten Handelswege und Produktionsräume offen zu halten.
Gentrifizierung, Bauboom und türkische Krise
Der Preis der Immobilienspekulation im Dienste einer von Millionen IstanbulerInnen abgelehnten Luxus-Sanierung im Eiltempo ist die Zerstörung von weiten Teilen der architektonisch und historisch einmaligen Altstadtviertel von Tarlabaşı, Kurtuluş oder Kocatepe und der steilen und verwinkelten Stadtviertel wie Katip Mustafa Çelebi, Tophane oder Cihangir.
Schon jetzt hat dieser Bauboom auf Kosten der dort ansässigen Bevölkerung einmalige Gebäudeensembles für immer vernichtet und wird als städtebauliche Todsünde in die Architekturgeschichte von Istanbul eingehen. Viele Menschen werden vertrieben, um der Profitlogik und der globalen Gleichmacherei von schlechter Architektur für diejenigen Platz zu machen, die zwar viel Geld, aber wenig Sinn für Gemeinschaft im Sinne gewachsener sozialer und kultureller Strukturen haben.
Übrigens lassen sich ähnliche Zerstörungen derzeit im ostanatolischen Van oder anderen kurdischen Städten beobachten. Gerade in Van ist die zerstörerische Dimension des Kapitalismus nach dem Erdbeben mit ganzer Wucht angekommen: Block für Block der Häuser, die das Beben überstanden haben, wird dem Erdboden gleichgemacht für einen kreditfinanzierten Bauboom.
Längst zeigt sich, dass diese angebliche Erfolgsgeschichte des globalen kapitalistischen Baubooms in Zentren der großen Metropolen schnell wie ein Kartenhaus in sich zusammen stürzen kann, sobald sich die internationalen Hedgefonds und Börsenspekulanten mit ihren Investitionen einem noch lukrativeren Geschäft zuwenden wollen. Ein möglicher Crash in der Türkei infolge des schnellen Abzugs kurzfristig investierten Kapitals würde die Immobilienblase in Spanien wie eine leichte Frühlingsbrise erscheinen lassen.
Verfolgt man den Kurssturz an der Istanbuler Börse seit Beginn der Protestbewegung, den Kursverfall der türkischen Lira, das steigende Handelsbilanzdefizit der Türkei, die wachsenden Schulden- und Kreditberge sowie die abgeflaute Konjunktur des bis 2011 noch als das »China Europas« bejubelten AKP-Modells, könnten für die Banken und Konzerne am Bosporus heftige Frühjahrsstürme heraufziehen.
Krise im »China Europas«
Die Türkische Lira sank Ende September auf ein historisches Tief: Für einen Euro müssen jetzt 2,70   Lira auf den Tisch gelegt werden. Im September 2012 war ein Euro rund 2,30 Lira wert, 2010 sogar nur 1,99 Lira. Ebenso dramatisch ist der Kursverlust gegenüber dem Dollar. Da ein Großteil der türkischen Unternehmer in den Boom-Jahren Euro- oder Dollarkredite aufgenommen haben, aber türkische Lira einnehmen, ist der wirtschaftliche Verlust gravierend. Der Istanbuler Leitindex lag Ende Mai 2013 noch bei knapp 93 000 Punkten, Ende August fiel er auf  65 000 Zähler in den Keller. In nur drei Monaten verlor die Bosporus-Börse damit satte 27 Prozent. Jetzt dümpelt er bei 75 000 Zählern vor sich hin.
Während der Finanzkrise nach 2008 floss das Kapital in Strömen in die Türkei, da weltweit niemand in Euro oder Dollar investieren wollte. Durch die Ankündigung Bernankes, die expansive Geldpolitik der amerikanischen Notenbank Fed bald beenden zu wollen, wird nun der Dollar wieder attraktiver, d.h. aus Ländern wie der Türkei fließt das Geld wieder ab. Allein seit Mai haben global agierende Investoren rund 44 Milliarden Dollar aus Aktien- und Anleihefonds mit dem Schwerpunkt Schwellenländer abgezogen, wie Daten von EPFR Global belegen.
Für die Türkei hat die schwache Lira fatale Folgen. Zum einen werden die Importe immer teurer, das Land ist traditionell von Öl- und Gasimporten abhängig. Schon ein Anstieg des Ölpreises um zehn Dollar kann in der Türkei zu einem zusätzlichen Leistungsbilanzdefizit von rund fünf Milliarden führen. Bereits jetzt haben die steigenden Ölpreise die Türkei rund 300 Millionen Dollar gekostet, wie die Regierung kürzlich bekannt gab.
Die Brutto-Außenverschuldung der Türkei stieg von knapp 292 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 auf fast 337 Milliarden US-Dollar 2012. Lag die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (real in Prozent) im Jahr 2010 noch bei 9,2 % und 2011 bei 8,5 %, so waren es 2012 nur noch 2,6 %. Die für 2013 von Germany Trade & Invest Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing prognostizierten 3,4 % und die für 2014 erhofften 3,7 % dürften kaum noch zu erreichen sein.
Genau das ist einer der wunden Punkte des AKP-Wirtschaftsbooms. Bisher ließ sich das Defizit durch die Geldzuflüsse aus dem Ausland gut finanzieren. Bleiben die jetzt aus, wird es eng. »Die Investoren werden zunehmend nervös«, sagte kürzlich Gregor Holek, der Türkei-Experte von Raiffeisen Capital Management. Sie zögen sich zwar noch nicht zurück, doch die allgemeine Verunsicherung nehme zu. Insbesondere große Fonds seien zurzeit kaum mehr in der Türkei aktiv.
Eine der Ursachen findet sich auch in den innenpolitischen Unruhen. Zu präsent sind die Bilder des besetzten Taksimplatzes, auf dem insgesamt mehrere Millionen Menschen gegen die Regierung Erdoğans und gegen die brutalen Polizeieinsätze revoltierten. Derzeit steigt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zusätzlich aufgrund der allgemeinen Teuerungsraten. Die durchschnittliche Preissteigerung liegt mit knapp neun Prozent sehr hoch. Der schlechte Kurs der türkischen Lira könnte die Unzufriedenheit weiter anheizen. Zumindest droht dem AKP-Modell die Luft oder das Geld auszugehen. Damit schwindet aber auch seine stärkste ideologische Waffe: Der Erfolg einer selbstbewussten Türkei, die den WählerInnen der AKP Wohlstand, Macht und Aufstiegschancen verspricht.
Parallelentwicklungen: Die horizontale Gegenmacht der Kommune vom Gezi-Park und die demokratische Autonomie in Kurdistan
Das Projekt der demokratischen Autonomie in der kurdischen Befreiungsbewegung und die Kommune vom Gezi-Park weisen einige grundlegende Übereinstimmungen auf, sowohl in der Organisationsform wie in der politischen Strategie: Es geht hier wie dort um basisdemokratische Strukturen, um eine antihierarchische Selbstermächtigung. Das zeigt sich in den kurdischen Räten ebenso wie in den Erfahrungen der Istanbuler Foren. Es geht nicht um die Ergreifung der Staatsmacht, nicht um die Eroberung der alten Formen der Herrschaft, sondern um etwas ganz anderes. Die autonome  Selbstermächtigung in basisdemokratischen, antisexistischen, antikapitalistischen, genossenschaftlich und ökologisch ausgerichteten Rätestrukturen zeigt sich in der kurdischen Bewegung beispielsweise im hohen Grad an Autonomie der Frauenorganisierung. Insofern geht es in beiden Fällen nicht um Staatsmacht, um Militär oder Grenzen von willkürlich konstruierten Nationen und Staaten. Es geht um Räume und Gebiete der Autonomie mit internationalistischen Momenten. Die militärischen Angriffe auf das autonome Rojava/Westkurdistan – ob von der Türkei und der Allianz islamistischer Kräfte von Al Quaida bis Saudi Arabien und Katar – zeigt, wie nötig und zugleich gefährdet diese Perspektiven sind.
Für die AktivistInnen der Gezi-Aufstände bedeutet das, in den nächsten Monaten den autonomen Geist der Bewegung über die Zeit der Kommunal- und Parlamentswahlen hinaus zu verlängern. Auch stellt sich in der aktuellen Dynamik der anstehenden Kommunalwahlen die Herausforderung, sich dem Drang verschiedener linker Parteien nach parlamentarischer Partizipation nicht einfach unterzuordnen – zumal diese auch nicht vor Koalitionen mit manch alten kemalistischen Kräften zurückschrecken. Die kürzliche Modeshow in einer besetzten Textilfabrik in Istanbul ist indes ein Beispiel für eher lohnende Betätigungsfelder.
Auch in Kurdistan gäbe es unabhängig von der großen Politik praktische Ideen für klassenkämpferische Projekte: Wenn nicht jetzt über Alternativen zum kapitalistischen Tourismus, also über ökologische Landwirtschaft und nachhaltige Energieversorgung nachgedacht und diskutiert wird, könnte der kapitalistische Zyklus der Modernisierung Kurdistan schlicht überrollen. Die Umweltzerstörung durch weggeworfene Plastiktüten und -flaschen sowie die Begleiterscheinungen des globalen ökonomischen Handels haben allein in den letzten eineinhalb Jahren in den Flüssen der Region Van verheerende Spuren hinterlassen. Doch wo sind die ökologischen Aufklärungskampagnen, wo die Genossenschaften, die sozialen und ökologischen Wohnungsbau betreiben als Gegenmodell zu den Gated Communities für die kurdische Mittel- und Oberklasse samt der rasanten Bodenspekulation? Wo sind die ökologischen Produktionsgenossenschaften aus der Region, die die kurdischen Städte mit selbstproduzierten hochwertigen Nahrungsmitteln versorgen könnten? Und wo sind die autonomen Kulturzentren, die der staatlichen und islamistischen Bildungsoffensive etwas entgegensetzen?
Ohne das autonome Projekt in Westkurdistan/Syrien, einer Gesellschaft jenseits kolonialer und neokolonialer Grenzziehungen, ethnischer Säuberungen, autoritärer Regime, zudem gegen die Interessen regionaler wie globaler Großmächte gerichtet, wäre auch für die Entwicklung in Nordkurdistan das Schlimmste zu befürchten. Ohne eine reale Chance auf einen gerechten Frieden in Kurdistan würde aber wiederum auch die Aufstandsbewegung in der gesamten Türkei ins Stocken geraten und Gefahr laufen, brutal unterdrückt zu werden.

Michael Backmund lebt und arbeitet als Journalist, Autor und Filmemacher in München. Er ist Mitglied im FreundInnenkreis Andrea Wolf und setzt sich seit 1998 für die Aufklärung der Kriegsverbrechen der türkischen Armee in Kurdistan ein.