Mittwoch, 5. Dezember 2012

Von Konya zu Kayseri: Zwei Dekaden islamistischer Kommunalpolitik im türkischen Kontext der globalen Ökonomie


Von Axel Gehring

Ali Ekber Doğan nannte es einen "Wandel in der Raumimagination von Konya zu Kayseri". Wie vollzieht sich der Prozess der Professionalisierung und ökonomischen Durchrationalisierung auf kommunaler Ebene? Mit welchen nationalen und internationalen Dynamiken ist er verschränkt?

Der Wallfahrtsort Konya steht in der Türkei synonym für eine Stadt klassisch islamistischer Prägung, deren politische Kultur orientalistische Klischees zu bestätigen scheint. Kayseri indes wird insbesondere in der internationalen Öffentlichkeit als Paradebeispiel »moderner islamisch konservativer« AKP-Politik wahrgenommen. Ökonomisch leistungsfähig und räumlich durchrationalisiert bietet sie eine umfangreiche kommunale Infrastruktur, die moderne Konsummuster ermöglicht. Nicht alle türkischen Städte gehen den Weg von Kayseri, und auch nicht alle AKP-regierten Städte können ihn gehen. Ein Wandel in der Raumimagination von Konya zu Kayseri ist aber dennoch kennzeichnend für das neue hegemoniale Projekt der AKP, wie Ali Ekber Doğan von der Mersin Universität auf unserer Tagung betonte. Wie vollzog sich dieser Wandel? Was ist das Typische an ihm? Dazu werden ausgewählte, aber zentrale Entwicklungen der letzten zwei Dekaden nachgezeichnet.

Als die islamistische Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) in den frühen neunziger Jahren in zahlreichen Klein- und Mittelstädten, aber auch Großstädten wie Istanbul oder Ankara, die Stadtverwaltungen stellte und sogar kurz auf nationaler Ebene eine Koalitionsregierung anführte, war der Neoliberalisierungsprozess in der Türkei bereits weit fortgeschritten. Obgleich ihre Rhetorik radikal und zuweilen antikapitalistisch klang, hatte sie weder die türkische Klassengesellschaft noch das ab 1980 etablierte neoliberale Regime im Fokus ihrer Kritik, wenn sie von der Gerechten Ordnung (Adil Düzen) sprach. Die ökonomische Dimension von Adil Düzen bezog sich auf den seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt zwischen landesweit operierenden westtürkischen Großkonglomeraten einerseits und auf lokaler Basis wirtschaftenden „anatolischen“ Unternehmen andererseits. In seiner kulturell symbolischen Dimension umfasste der Begriff den Widerstreit islamisch-religiöser mit säkularen Ordnungsprinzipien. Die ökonomische Dominanz der Konglomerate und die säkulare Ordnung des Staates schienen aus dieser Sicht einen monolithischen Block zu bilden. Die klassenübergreifende Mobilisierung der von der Teilhabe „ausgeschlossenen“ Peripherie gegen einen solchen Block bildete ein Ziel klassisch islamistischer Refah-Politik. Für eine grundsätzliche Kritik der ökonomischen Ordnung, die ab 1980 durch einen gewaltförmigen Neoliberalisierungsprozess etabliert worden war, fehlten der der Milli Görüş nahestehenden Refah die Voraussetzungen, denn sie organisierte eine Klassenallianz, die innerhalb dieser Ordnung agierte. Und die führenden Fraktionen dieser Allianz, die auf lokaler Basis wirtschaftenden Unternehmen, wollten vor allem ihre Stellung darin verbessern.

Refah-geführte Stadtverwaltungen nahmen aktiv am Neoliberalisierungsprozess teil, indem sie Dienstleistungen in bislang kommunaler Trägerschaft privatisierten und damit Beschäftigungsverhältnisse informalisierten. Dies schuf neue Geschäftsfelder für die ortsansässigen Unternehmen, die zwar nicht im nationalen Maßstab mit den großen Konglomeraten konkurrierten, aber so auf lokaler Ebene nach neuen Chancen innerhalb der neoliberalen Ordnung suchten. Zugleich schwächten die Privatisierungen die Organisationsmacht der kommunal Beschäftigten, die sich Anfang der neunziger Jahre neuformiert und Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen erkämpft hatten, was wiederum die öffentlichen Haushalte belastete und andere Gewerkschaften inspirierte. Die pragmatische Gestaltung der Neoliberalisierung auf kommunaler Ebene bildete, so Ali Ekber Doğan, eine wichtige Grundlage der guten Beziehungen zwischen islamistischen Stadtverwaltungen und lokalen Unternehmen. Gerade auch deshalb und nicht nur aufgrund zahlreicher Spenden von »einfachen« Gläubigen konnte die Refah Partisi rasch Mittel mobilisieren, wenn es galt, die sozialen Folgen des Neoliberalisierungsprozesses mit Ad-hoc-Maßnahmen wie kostenlosen Armenspeisungen und Brennstoffverteilungen unbürokratisch abzufedern. Eben dieser Klientelismus der Refah wurde von ihren KlientInnen als Ausdruck sozialer Empathie und gelebter Verantwortung wahrgenommen. Ihr Begriff von Gerechtigkeit verfügte über eine Autonomie gegenüber unmittelbar-egoistischen Klasseninteressen, insofern er die heterogene Einheit der Klassenallianz nicht zuletzt durch einen starken Rekurs auf sunnitisch-religiöse Ordnungsprinzipien herstellte. Er spielte so eine wichtige Rolle (islamistischer) politischer Identität – nicht zuletzt diese generierte eine ausgeprägte soziokulturelle Distanz gegenüber PlanungsexpertInnen, die als Angehörige eines säkularen Establishments wahrgenommen wurden. Gleichwohl sind die Ursachen für die Nicht-Realisierung umfassender Stadtentwicklungsprojekte nicht allein in derartigen Ressentiments islamistischer Stadtverwaltungen zu suchen. In den neunziger Jahren fehlten ihnen darüber hinaus die monetären Ressourcen und die gesetzlichen Grundlagen. Einen weiteren wichtigen Faktor bildete das Ende der Refah-geführten Regierung nach dem Memorandum der Streitkräfte 1997.

2002 löste die AKP als (mittelbare) Nachfolgerin der 1998 verbotenen Refah die seit 1999 regierende Koalition aus kemalistischer DSP, konservativer ANAP und ultranationalistischer MHP ab. Diese Regierung war 2001 mit der schwersten Wirtschaftskrise seit 1980 konfrontiert worden. Gemeinsam mit den internationalen Finanzinstitutionen legte sie der Bevölkerung ein typisches Strukturanpassungsprogramm auf. Es beinhaltete nicht nur Einsparungen im Haushalt, sondern band die türkische Wirtschaft stärker in globale Waren und Finanzkreisläufe ein. Im Grunde stellte es eine neue Welle der Neoliberalisierung dar. Obgleich als politische Alternative zur mit dem Programm assoziierten Regierungskoalition gewählt, behielt die AKP die Selbstverpflichtung gegenüber dem Strukturanpassungsprogramm bei. Somit übernahm sie ab 2002 die Rolle der Organisatorin des Restrukturierungs- und Internationalisierungsprozesses der türkischen Ökonomie. In der Tat hatte diese neue Welle der Neoliberalisierung geholfen, den internationalen Kreditzugang der türkischen Ökonomie zu stabilisieren und die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Eine bis dahin nicht gekannte Privatisierungswelle hatte großen wie kleinen Kapitalgruppen neue, einträgliche Geschäftsfelder erschlossen. Die AKP konnte nun sowohl auf die Unterstützung der großen konglomeratsförmigen Kapitalgruppen als auch der kleineren Konkurrenten zählen.

Dies war auch für die kommunalpolitische Ebene bedeutsam, auf der seit den 2000er Jahren die meisten Stadtverwaltungen von der AKP gestellt werden und durch die AKP-Regierung eine Rückendeckung erfuhren, wie sie für die Refah-geführten Administrationen der neunziger Jahre undenkbar gewesen wäre. Während sie schon zu Beginn ihrer Reformen den Kommunalverwaltungen mehr Kompetenzen gab und eine Verwaltungsebene zwischen Stadt und Provinz einführte, hatten sich auch die finanziellen Spielräume dieser Institutionen infolge des fortgesetzten Neoliberalisierungsprozesses erheblich erweitert. AKP-geführte Verwaltungen waren nun in die Lage, im großen Umfang Projekte zur Neuordnung des städtischen Raumes zu initiieren und dabei sowohl in Kooperation mit der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKİ als auch mit privaten Unternehmen zu agieren. Ihre Politik der Durchrationalisierung des städtischen Raumes nach Kriterien ökonomischer Effizienz und die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Expansion in Gestalt neuer Wohnformen anstelle von informell errichteten Siedlungen (Gecekondu) markieren den Eingangs erwähnten Wandel der Raumimagination von Konya zu Kayseri. Dieser Wandel vollzog sich analog zu einem Professionalisierungsprozess innerhalb des politischen Islam, Vorbehalte gegenüber einer Zusammenarbeit mit etablierten PlanerInnen erodierten. Die AKP bildete einerseits das Ergebnis eines solchen Prozesses und setzte sich andererseits – wie die Herausbildung eigener administrativer ExpertInnen zeigt – an dessen Spitze. Dies bildet einen wesentlichen Kern des sozialen Aufstiegs ihrer AnhängerInnen hinein in neue Mittelschichten; denn die Organisation des auf allen räumlichen Ebenen laufenden Internationalisierungsprozesses der türkischen Ökonomie kreiert einen fortwährenden Bedarf an Führungs- und Fachkräften – im privaten wie im öffentlichen Sektor. Und das soziale Monopol auf deren Rekrutierung haben die traditionell-säkularen Mittelschichten längst verloren, während religiöse Netzwerke und Sekten auf diesem Gebiet eine immer stärkere Rolle spielen. So geht es Gruppen wie der Gülen-Bewegung nicht primär um eine islamische Revolution oder eine (wie auch immer geartete) »gerechte Ordnung«, sondern vielmehr darum, selbst an der Reorganisation der türkischen Ökonomie teilzuhaben. Vergleichsweise weiche personelle Überscheidungen zwischen dem Feld der Religion sowie dem der beruflichen Profession und fachlichen Expertise bilden nicht nur auf lokaler Ebene wichtige Handlungsressourcen. Dabei ist nicht mal den Beteiligten selbst ganz klar, ob sie die VertreterInnen einer neutralen kapitalistischen Rationalität, eines Klasseninteresses oder aber ihres jeweiligen (religiösen) Netzwerkes sind. Unter anderem das markiert heute das Typische der Artikulation von Kapitalismus und sunnitischem Islam unter der organisatorischen Ägide der AKP.

Nicht alle Teile der Gesellschaft und WählerInnen der AKP nahmen daran in gleicher Weise teil. Es gibt Gruppen, die unter dem von der AKP forcierten Neoliberalisierungsprozesses sozial aufsteigen konnten und aktive Subjekte der gesellschaftlichen Rationalisierung, Professionalisierung und forcierten Kommodifizierung wurden. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die ihre gesellschaftliche Stellung als TagelöhnerInnen oder städtisches Proletariat beibehalten haben oder gerade erst jüngst durch Migration in die Städte proletarisiert wurden. Obwohl sich die AKP nach wie vor als Vertreterin einer klassenübergreifenden Allianz versteht und insbesondere Kommunalverwaltungen und lokale Gliederungen der Partei weiterhin versuchen, die sozialen Folgen der Neoliberalisierung durch religiös konnotierte Ad-hoc-Maßnahmen abzumildern, treiben sie mit ihrer Kommunalpolitik die städtische Segregation voran. Sie entsprechen damit dem Wunsch der neuen Mittelschichten nach räumlicher Trennung von denen, die keinen vergleichbaren sozialen Aufstieg geschafft haben, aber ihnen in ihrer Herkunft doch ähnlich sind. Selbst öffentliche Wohnungsbaugesellschaften wie TOKI errichten nicht nur bezahlbare Sozialwohnungen, sondern sind an der Erstellung oft umzäunter Wohnkomplexe für die neuen Mittelschichten beteiligt. Obwohl sich zahlreiche Angehörige der neuen Mittelschichten nach wie vor als religiös definieren, möchten sie sich von Formen einer vermeintlich ungebildeten Unterschichten-Religiosität abgrenzen. Zugleich ist dieses Bestreben nicht ausschließlich von Klassismus getrieben, sondern richtet sich ebenso gegen als »unmoralisch« wahrgenommene säkulare Mittelschichtsangehörige. Diese Praxis der doppelten Abgrenzung bringt u. a. Trabantenstädte hervor, die ein Leben nach islamisch-religiösen Geboten »ermöglichen« sollen. Der politische Islam hat damit das Gecekondu verlassen und findet neue Refugien – auch und gerade dort, wo auf »höherem Niveau« gewohnt oder konsumiert wird. Auch diese Dynamik begünstigt eine Islamisierung bislang als säkular erlebter Stadtviertel. Selbst auf der Istanbuler İstiklal Caddesi (der berühmten Ausgehmeile in Beyoğlu) und am Taksim Platz wird diese Tendenz sichtbar, jedoch in Form einer Islamisierung für Mittelklassen – nicht aber für alle (sunnitischen) Muslime. Diese Entwicklung begann nicht erst mit der AKP, wird aber konsequent vorangetrieben. So entstehen neue Formen der Distanz zwischen den BewohnerInnen der Gecekondu und der neuen Mittelschicht innerhalb der AKP-Wahlbasis. Davon bleiben weder die Partei, noch AKP-geführte Stadtverwaltungen unberührt. Das trägt nicht zur Säkularisierung der AKP-Politik bei, sondern treibt den Bezug auf die gemeinsame Identität an, die soziale Differenzen überbrücken soll: Trotz offenkundiger Differenzen zwischen »Mittelschichten-« und »Unterschichten-Islam« bleibt der Rekurs auf die gemeinsame Religion identitätspolitisch bedeutsam. Dies gilt zumindest für die Wahlbasis der AKP – beziehungsweise für die Praxis der Partei gegenüber ihrer Basis.